Sion-Coach Tramezzani über seine «Flucht» aus Saudi-Arabien
«Ich hätte jedem anderen Klub ausser Sion abgesagt»

Erst geht Paolo Tramezzani zu einem Verein, der mehr Trainer frisst als Sion. Dann erlebt er in Saudi-Arabien «die verrücktesten hundert Tage seines Lebens». Und nun ist er zum dritten Mal im Wallis. Ein Mann ohne Berührungsängste!
Publiziert: 31.10.2021 um 12:00 Uhr
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Aktualisiert: 31.10.2021 um 12:20 Uhr
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Paolo Tramezzani hat den FC Sion wieder zu einer Einheit geschweisst. Zumindest im Spiel gegen Servette.
Foto: keystone-sda.ch
Alain Kunz

Nein, erschüttern kann ihn nicht mehr viel. Dafür hat Paolo Tramezzani (51) in seinem Leben schon zu viel erlebt. Nicht als Spieler. Da wird er schnell zum Star, macht über 100 Serie-A-Spiele, darunter 34 für Inter Mailand. Das Schlimmste, das ihm da widerfährt, ist, dass er sich in zwei Jahren bei den Tottenham Hotspurs nicht durchsetzt und bloss sechs Spiele macht.

«Wie schön wäre jetzt ein Glas Wein …»

Als Trainer hingegen geht der Italiener von einem Extrem zum anderen. Höhepunkt: der letzte Job in Saudi-Arabien. Al-Faisaly heisst der Klub. Harma die Stadt. Mitten in der Wüste. Zwei Autostunden von Riad weg. «Es war nicht einfach», erinnert sich Tramezzani. «Nicht für mich. Erst recht nicht für meine Familie.» Frauen sind in Saudi-Arabien immer noch Menschen zweiter Kategorie. Tramezzani nennt Beispiele: «Harma ist eine Stadt aus einer anderen Zeit. Weshalb es besser war, dass meine Frau und meine Tochter in der modernen Metropole Riad lebten. Getrennt zu sein, war per se nicht einfach. Und es war auch nicht viel besser, als wir zusammen waren. Als ich Lisa auf dem Flughafen abholte, durfte ich sie nicht küssen, weil das gegen die Sitten verstösst. Die Restaurants mussten wir durch getrennte Eingänge betreten. Und Alkohol gabs keinen. Wie oft schauten wir uns in die Augen und dachten: Wie schön wäre jetzt ein Glas Wein … Klar, es gibt den Schwarzmarkt. Aber das ist High Risk.»

Ghettoisierung der Frauen

Auch im Stadion musste Lisa einiges über sich ergehen lassen. «Seit ein paar Jahren sind Frauen wohl toleriert. Aber die sind alle in einer ungedeckten Ecke zusammengepfercht. Förmlich ghettoisiert. Und sie dürfen diesen Sektor auch nicht verlassen.»

Doch auch für ihn wars nicht immer einfach. «Das beginnt schon, dass man auch bei über vierzig Grad lange Hosen und langärmlige Shirts tragen muss. Das war infernal!» Und dann die Gebetsregeln! «Wenn der Muezzin in der Moschee um halb fünf oder Viertel vor sechs zum Gebet rief, stand alles still. Auch mitten im Training. Insgesamt beten die Moslems ja sieben Mal im Tag.»

So müsse man als Trainer in Saudi-Arabien enorm flexibel sein. Dennoch sei es eine wunderbare Erfahrung gewesen, die Paolo kein bisschen missen möchte. «Solch eine Erfahrung macht dich reicher, grösser, du fühlst dich besser. Ohne dort gelebt zu haben, kann man nicht wissen, wie völlig anders die Realität dort ist. Und wer weiss, vielleicht kehre ich eines Tages zurück. Und wenn Sion nicht gerufen hätte, wäre ich wohl immer noch in Harma.»

Das erste Mal unter dem Schock der Krebsdiagnose

Seine «amour fou» mit dem Wallis beginnt sich mit seinem ersten Engagement zu entwickeln, nach einer äusserst erfolgreichen Saison mit Lugano. Es beginnt aber mit einer Extremerfahrung. «Das war der schwierigste Moment in meinem Leben. Es war der Moment, als bei Lisa Krebs diagnostiziert wurde. Da spürte ich einen Riesen-Rückhalt seitens von CC. Er hat sich persönlich darum gekümmert, dass Lisa für die Operation zu den besten Spezialisten nach Bern kam. Das hat mich mit den Leuten hier noch näher zusammengeschweisst.» Jetzt gehe es Lisa Gott sei Dank gut, sagt Paolo. Die Kontrollen hätten nichts Auffälliges ergeben. «Wir sind sehr zuversichtlich.» Lisa ist eben erst aus Saudi-Arabien zurückgekehrt. «Weil Emily das Schul-Trimester beenden musste. Und weil Lisa die Umzugsmanagerin ist. Ich bin ja Hals über Kopf nach Sion geflogen. Sie hat alles organisiert und dafür gesorgt, dass auch die Hunde und Katzen wohlbehalten angekommen sind.»

Nach nur 16 Spielen wird Tramezzani erlöst. Als Nächstes zieht es den Mann aus der Emilia-Romagna zu Apoel Nikosia. Dort haben die Trainer eine noch kürzere Halbwertszeit als in Sion. Tramezzani wird wohl Meister. Doch als er in der neuen Saison das erste Spiel verliert, kostet ihn das gleich seinen Job. Er wird der erste von fünf Trainern in jener Saison bei Apoel gewesen sein …

Beim zweiten Mal ein Mea culpa

Auch das Engagement bei Livorno ist ein Himmelfahrtskommando, das nach sieben sieglosen Spielen beendet ist, bevor das zweite Mal Sion folgt. Das Team ist in Abstiegsgefahr, wie immer die letzten Jahre. Rettungsaktion. Sie gelingt. 13 Spiele bis zum Ligaerhalt in extremis, im letzten Saisonspiel in Genf. Und dann? Geht es dennoch nicht weiter im Wallis. Tramezzani: «Der Klub hat mir eine Offerte gemacht, die ich nicht akzeptiert habe. Das war ein Fehler! Ich hatte damals die Gesamtsituation des Klubs mit der Pandemie zu wenig bedacht. Dass es zur Trennung kam, lag alleine an mir.»

Und nun also das Wallis zum Dritten. Warum denn das? «Weil Christian Constantin mich angerufen hat. Basta. Und ich verrate ihnen nun etwas: Ich hätte allen anderen Klubs abgesagt. Wenn die Medien in Italien meine Rückkehr zu Sion als Flucht aus Saudi-Arabien abtaten, dann stimmt das so nicht ganz. Ich hätte dort weitermachen können und auch wollen. Aber wenn Sion ruft …»

«Nirgends wohler gefühlt als im Wallis»

Schon irgendwie irre. Da gibt es in der Schweiz Dutzende Trainer, die sich geschworen haben, nie unter CC zu arbeiten. Und der Mann ist total verknallt in … Ja in was eigentlich? «Sion, das ist ein spezieller Ort. Das ist eine Obsession für mich. Ich liebe den Klub. Ich liebe die Stadt. Ich liebe es, hier zu sein. Ich habe mich nirgends auf der Welt wohler gefühlt als in Sion.»

Und nun? Vielleicht ein neuer Rekord, den Didier Tholot mit 603 Tagen innehält? «Klar würde es mir Spass machen, lange hier zu sein. Und wir im Mai feststellen können: Sion hat nach sechs Jahren, die allesamt sehr kompliziert waren, endlich eine schöne Saison hingelegt. Eine Saison ohne Abstiegsgefahr. Auch wenn nur schon das in Anbetracht der Teams, die heuer in der Super League spielen, schwierig wird.»

Erst die verrücktesten hundert Tage des Lebens. Gleich darauf wieder Sion. Wahrlich speziell, dieser Tramezzani.

Credit Suisse Super League 24/25
Mannschaft
SP
TD
PT
1
FC Zürich
FC Zürich
14
7
26
2
FC Basel
FC Basel
14
20
25
3
FC Lugano
FC Lugano
14
6
25
4
Servette FC
Servette FC
14
2
25
5
FC Luzern
FC Luzern
14
4
22
6
FC St. Gallen
FC St. Gallen
14
6
20
7
FC Lausanne-Sport
FC Lausanne-Sport
14
2
20
8
FC Sion
FC Sion
14
0
17
9
BSC Young Boys
BSC Young Boys
14
-5
16
10
Yverdon Sport FC
Yverdon Sport FC
14
-10
15
11
FC Winterthur
FC Winterthur
14
-21
11
12
Grasshopper Club Zürich
Grasshopper Club Zürich
14
-11
9
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