Wer in den 90er-Jahren Fussball-sozialisiert wurde, der kann sich noch wehmütig daran zurückerinnern. Kaum war jeweils die neue Saison in der Nationalliga A gestartet, drehte sich vieles vor allem um eine Frage: Wer schafft es über den Strich und wer nicht? Und spätestens, wenn im Herbst die Blätter von den Bäumen fielen und die Plätze so richtig schön tief und braun waren, dann war er endgültig da: der sagenumwobene Strichkampf.
Für die Jüngeren: Vor Einführung der Super League 2003 hatte die Schweiz einen weltweit einzigartigen Modus. Es gab eine Qualifikationsrunde mit zwölf Teams, die in der ersten Halbsaison je zweimal gegeneinander spielten. Die Mannschaften über dem Strich auf den Rängen 1 bis 8 kamen danach in die Finalrunde (mit halbierten Punkten), die unter dem Strich auf den Plätzen 9 bis 12 mit den vier besten aus der NLB in die Auf-/Abstiegsrunde. Die mussten dann im Frühjahr vor dem Abstieg zittern.
Klingt kompliziert, war es aber nicht. Ein Spektakel aber, das war es, denn viele Klubs waren damals in den Strichkampf involviert und bangten dadurch um ihre Zukunft. Viele, teils unvergessliche Geschichten wären ohne den Strich erst gar nicht möglich gewesen.
Tragische Strichgeschichten vom FCZ und GC
Besonders legendär ging es 1999 zu und her. Als der FC Zürich im letzten Spiel der Qualifikationsrunde in Neuenberg 1:1 spielte, feierten die Zürcher bereits die Qualifikation für die Finalrunde. Dumm nur, dass das Team von Trainer Raimondo Ponte auf seinem Matchblatt acht statt nur die erlaubten sieben Ausländer aufgeführt hatte. Deshalb wurde nach einem Xamax-Protest aus dem 1:1 eine 0:3-Forfait-Niederlage und der FCZ in die Auf-/Abstiegsrunde verbannt. «Ich war völlig am Ende. Nachträglich gesehen, war das der Knackpunkt meiner Karriere», sagte Ponte Jahre später darüber.
Prominentestes Strichopfer war zweifelsohne 1992 GC. Die Startruppe um Welttrainer Leo Beenhakker und Spieler wie Giovane Elber, Alain Sutter, Ciriaco Sforza und Co. landete am 6. Dezember, dem Tag des EWR-Neins, völlig überraschend unter dem Strich und spielte deshalb im Frühling nicht um den Titel, sondern gegen Bulle, Chênois und Locarno.
«Der Strich muss weg»
Doch bald einmal ging in jenen Jahren den Direktbeteiligten der Modus gegen den Strich. Wie eine Umfrage aus dem Jahr 1998 zeigt.
Xamax-Präsident Gilbert Facchinetti: «Der Strich ist ein absoluter Blödsinn. Basel-Boss René C. Jäggi: «Wenn dieser Modus derart genial sein soll – warum kopiert ihn dann niemand? In der Wirtschaft dauerts drei Monate, dann wird etwas Geniales kopiert.» Und FCZ-Präsident Sven Hotz: «Der Strich muss weg! Der finanzielle Druck ist zu gross.»
Es kam, wie es kommen musste: Die Klub-Bosse machten dem Spektakel einen Strich durch die Rechnung und beerdigten 2003 den Kultmodus. Der Strichkampf, dieses weltweite Unikat, war tot. Die Folge davon: Die Spannung im Herbst war weg. Diese kam in der Zehnerliga erst im Frühjahr auf, vor allem in den Jahren, als der Tabellenneunte in die Barrage musste.
Irgendwann war aber den Klubvertretern und den Verantwortlichen der Swiss Football League auch die Zehnerliga nicht mehr genehm. Die Spannung im Meisterrennen fehlte. Und fast jeder Klub geriet einmal in Abstiegsgefahr oder stieg sogar ab. Nach langen Diskussionen, wirren Modus-Vorschlägen, für die man – um sie zu verstehen – mindestens einen Doktortitel gebraucht hätte, und reichlich Gezanke einigte man sich auf … (Trommelwirbel) … die Rückkehr des Strichs.
Meister- oder Abstiegsrunde?
Der Modus ist nun zwar nicht mehr der gleiche wie früher, den Strich aber, den gibt es seit dieser Saison endlich wieder. Und damit auch den Strichkampf. Deshalb stellt sich in den kommenden Wochen – wie früher in den guten, alten Zeiten – vor allem eine Frage: Schafft es mein Klub über den Strich (Plätze 1 bis 6) und damit in die Meisterrunde oder bleibt er unter dem Strich (Plätze 7 bis 12) und landet dadurch in der Abstiegsrunde?
Was bleibt unter dem Strich? Lang lebe der Strichkampf!