Noch gibt es kein Lied über ihn, noch hat er auch keinen Spitznamen. Und das spricht für Jordan Pickford (27). Denn die Engländer haben es in der Vergangenheit irgendwann mit Humor genommen, wenn ihre Nati-Keeper an grossen Turnieren ab und an daneben gegriffen haben. So hat man David James beispielsweise zu «Calamity-James» – Unglücks-James – umgetauft. Oder Paul Robinson zu «Misses Robinson».
Die Zeit der Torhüter-Probleme scheint aber auf der Insel vorbei zu sein. Pickford ist es, der die Three Lions vom ersten Triumph seit der WM 1966 träumen lässt. Bisher hat jener Mann, der aus dem tiefsten Nordosten Englands stammt, nicht einmal hinter sich greifen müssen.
Er ist nicht überall beliebt
Seine Reflexe sind top, mit den Füssen, egal ob links oder rechts, ist er überragend. Fast jedes Abspiel findet den Mitspieler. Dennoch hat Pickford in Experten-Kreisen viele Kritiker. «Er ist nicht Weltklasse», hat beispielsweise Ex-Profi Bruno Berner im SRF-Studio gesagt.
Auch in der Heimat hat der «kleine» Jordan, der «bloss» 1,85m gross ist, nicht nur Befürworter. Seine Strafraum-Beherrschung sei verbesserungswürdig, heisst es. Und seine Ausfälle – auf und neben dem Platz – geben zu reden.
Im Frühling 2019 schafft es Pickford auf die Titelseiten, weil er nach einem Pub-Besuch in Sunderland in eine Schlägerei verwickelt ist. Der FC Everton, sein Arbeitgeber, hat ihm daraufhin eine Busse aufgebrummt.
Letzten Herbst ist Pickford erneut in aller Munde. Hässlich grätscht der Everton-Keeper im Spiel gegen Liverpool Gegenspieler Virgil van Dijk um. Der Holländer erleidet einen Aussenbandanriss im Knie, verpasst die ganze Saison und die EM. Pickford sieht für sein Foul überraschend nur Gelb. Der Unmut der Reds-Fans aber ist so gross, dass der Goalie die Polizei einschalten muss. Er erhält Morddrohungen. Jordan, seine Frau Megan und sein damals einjähriger Sohn müssen von Bodyguards beschützt werden.
Hilfe von einem Sportpsychologen
Grauenhaft, doch es sind genau diese Erfahrungen, die den heute 27-Jährigen reifer gemacht haben. «Du lernst daraus, wie du aus allem lernst», sagt Pickford rückblickend. Ein Sportpsychologe habe ihm seither geholfen, erzählt der Keeper kurz vor der EM. Mit dessen Unterstützung sei er zu einem «besonneneren Torwart» geworden.
Und dieser neue Pickford ist nun seit November 2020 ohne Gegentor. Egal, ob die Engländer ihn mögen oder nicht. Er lässt die Insel träumen. Er ist die erste englische Nummer eins seit Weltmeister-Goalie Gordon Banks 1966, der es geschafft hat, bis in den Halbfinal einer Welt- oder Europameisterschaft kein Gegentor zu kassieren. Banks hat dann aber gegen Portugal und auch gegen Deutschland im Final hinter sich greifen müssen.
Pickford und England müssen nun gegen Dänemark ran. Siegt man auch hier, stehen die Engländer im Final. Im Wembley, in der Heimat. Gegen Italien oder Spanien. Spätestens wenn auch dieses Spiel gewonnen wird, wird man ihn dann wohl doch auf den Rängen singen, den Namen von Jordan Pickford. (mam)