«It's coming to Rome!», ruft Leonardo Bonucci in die Kamera. Ein blauer Schrei der Erlösung, purer Ekstase. Kurz zuvor pariert Gianluigi Donnarumma den entscheidenden Penalty gegen Englands Saka. Der EM-Titel kommt nicht «home» ins Fussball-Mutterland England, sondern geht zum zweiten Mal an die Italiener.
«Unglaublich, einfach unglaublich», erklärt Bonucci seine Gefühlslage wenig später im Uefa-Interview. Es sei so schön zu sehen, wie die Jungs Kraft aufgebracht hätten, um zu kämpfen. Ein Spektakel habe man geboten, der Titel gehe an das ganze Land. 1:1-Torschütze Bonucci kommt aus dem Schwärmen nicht mehr raus: «Wir haben die tollste Gruppe, die tollsten Fans und den tollsten Trainer.»
«Die Spieler waren wunderbar», gibt Letzterer zurück. Mancini begibt sich mit feuchten Augen zum Interview. Es fällt ihm schwer, Worte zu finden nach diesem packenden Krimi-Final. «Vor drei Jahren hätte keiner auf diese Nationalmannschaft gewettet, jetzt sind wir einfach nur glücklich», so der 56-Jährige sichtlich ausgelaugt nach über zweistündigem Nervenkitzel und ausgelassenem Jubel auf dem Wembley-Rasen.
Mancini übernimmt Italiens Nationalelf 2018 – nach der verpassten Qualifikation für die WM in Russland. Bei seinem Amtsantritt verkündet der Coach kein geringeres Ziel als den Gewinn eines grossen Turniers. Nach einer unfassbaren Serie von 34 Spielen der Unbezwingbarkeit hält er sein Versprechen.
England mit «atemberaubendem» Führungstor
Dabei spricht zu Beginn vieles dagegen. Nach nur zwei Minuten bringt Luke Shaw England per Drop-Kick in Führung. «Was für ein Ball nach innen und ein atemberaubender Abschluss», kommentiert England-Legende Alan Shearer die Szene.
«England war gut, sehr gut», gibt Mancini zu. Doch nach dem Rückstand hätten seine Jungs zunehmend dominiert. «Wir haben gut gespielt und gewonnen», so Mancini. Ab dem zweiten Durchgang ist Italien das spielbestimmende Team, erspielt sich mehr Chancen aus dem Spiel heraus. Sind die «Azzurri» damit der verdiente Europameister?
«Ja», meint SRF-Experte Bruno Berner. Er streicht Italiens mentale Stärke bis ins Penaltyschiessen heraus. Bei den Engländern hingegen versagen die Nerven zum Schluss. «Wenn du 3 von 5 Penaltys verschiesst, verdienst du es nicht, ein EM-Endspiel zu gewinnen», so Berner. Von Joker Rashfords verzögertem Anlauf hält er «gar nichts».
Wirbel um Italiens Ausgleich
Bei England überwiegt in erster Linie die Enttäuschung: «Ein Penaltyschiessen zu verlieren, ist das schlimmste Gefühl der Welt», sagt Harry Kane gegenüber «BBC». Doch die Jungs hätten kämpferisch nicht mehr geben können, so der Captain der «Three Lions». Man solle stolz sein, den Kopf hochhalten.
Zum Ausgleichstreffer der Italiener äussert sich Kane nicht kritisch. Vielleicht aus Respekt gegenüber dem Gegner – vielleicht, weil er die Szene noch nicht in der Wiederholung gesehen hat. Darin ist nämlich zu sehen, wie Bryan Cristante den Ball in der Entstehung mit dem Oberarm verlängert. Der VAR bleibt stumm – ganz zum Ärger der England-Fans: «Italiens Tor war Handspiel, unfair», schreibt ein Twitter-Nutzer.
Kane trauert derweil einzig den eigenen Chancen nach: «In der Nachspielzeit hatten wir ein paar Möglichkeiten, leider konnten wir keine nutzen, das schmerzt.» Des einen Leid ist des anderen Glück. «Ein unglaublicher Traum wird wahr», sagt Donnarumma – kurz zuvor zum besten Spieler des Turniers gekürt. (dad)