Wie verspeist man einen Löwen? Richtig: einen Bissen nach dem anderen.
In der Schweizer Fussball-Nati denkt man gerade über Fragen wie diese nach. Denn wir können es drehen und wenden, wie wir wollen: Es kann sein, dass Nati-Captain Granit Xhaka in 8 Tagen in Berlin die EM-Trophäe in den Himmel stemmt. Der Traum vom Europameistertitel lebt. Und es ist kein Unerreichbarer.
Von wegen Three Lions: Viertelfinalgegner England hat bisher nicht im Ansatz den Eindruck eines wilden, gefährlichen Löwen vermittelt, sondern eher den einer Kneipenmannschaft, die kickt, als ob sie vom Vorabend noch einen Kater hätte.
Grosse Gegner? Kein Problem!
Im Halbfinale würde mit Holland oder der Türkei auch kein unüberwindbarer Gegner warten. Und dann, ja dann, wäre es nur noch ein Spiel. Und in einem einzelnen Spiel kann die Nati jeden schlagen, da können wir Spanien-Bezwinger Gelson Fernandes fragen oder auch Kylian Mbappé, dessen Franzosen die Schweiz bei der letzten EM nach Hause schickte.
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Also: Es darf geträumt werden. Weil Xhaka bis aufs Schottland-Spiel jedem EM-Match den Stempel aufgedrückt hat. Weil Manuel Akanji eine Ausstrahlung hat, an die kaum ein anderer Verteidiger in diesem Turnier herankommt. Weil Murat Yakin sich nicht nur als Stilikone und Top-Favorit bei der Wahl zum Brillenträger des Jahres in Position gebracht hat, sondern weil er noch jedes Mal ein Auge für die Schwachstellen beim Gegner gefunden hat. Weil er vor allem nicht davor zurückschreckt, überraschende Entscheide zu fällen, weil er sie für richtig hält. Und weil er es bislang geschafft hat, die Personalie Xherdan Shaqiri nicht zum Politikum werden zu lassen, obwohl es der Ausnahmekönner bislang erst auf eine Stunde EM-Spielzeit bringt.
Granit Xhaka sagte es vor dem Turnier: «Die Nati ist besser als 2021»
Das ist das grösste Kompliment, das man dieser Schweizer Mannschaft machen kann: Sie funktioniert so gut, dass gegen jeden Gegner alles möglich ist. Klar mag Italien in diesen Tagen schwächeln. Dass man den Achtelfinal dann aber von A bis Z dominierte, dem Gegner gar nicht erst die Luft gab, irgendwie noch einen Fuss in die Partie zu bekommen, zeugt von ganz grosser Klasse.
Die Nati-Stars wissen, dass etwas Grosses möglich ist. «Wir sind besser als 2021», hat Xhaka bereits vor dem Turnier im Blick-Interview gesagt. Bisher haben er und seine Kollegen die Ansage eingelöst. Vor drei Jahren stand man im Viertelfinal, jetzt tut man es wieder.
Erlöst die Schweiz die EM von diesen Engländern?
Aber gleichzeitig ist das nun die grösste Herausforderung. Man kann in einem Turnier nicht den übernächsten Schritt vor dem nächsten gehen. Wer zu weit nach vorne schaut, läuft Gefahr, über eine Unebenheit zu stolpern, die eigentlich gar keine grosse Schwierigkeit darstellen sollte. Es ist eben wie mit dem Löwen: Man kann ihn nur Happen für Happen verspeisen.
So gilt es also, den Fokus auf die nächste Aufgabe zu lenken: das England-Spiel. Oder genauer: Auf die Aufgabe, die EM von diesen Engländern zu erlösen. Von ihrem grausamen Resultatfussball, der den Zuschauern die Lust an diesem wunderbaren Sport konsequent auszutreiben versucht – was besonders verwerflich erscheint, wenn man bedenkt, welch grandioses Potenzial dieses englische Team eigentlich im Kader vereinen würde. Welch eine Verschwendung! Und hier kommt dann wieder etwas Nervenkitzel ins Spiel. Gelingt es den Engländern ausgerechnet gegen die Schweiz, ihre Möglichkeiten so richtig auszuschöpfen? Dann könnte die Sache plötzlich komplizierter werden.
Am Ende hilft der Nati ohnehin nur: mutig sein, selbstbewusst sein, zubeissen. Ein Sieg gegen England wäre der grösste Erfolg in der Schweizer Fussballgeschichte. Was es dafür braucht, hat Dan Ndoye den Kollegen nach seinem Tor gegen Deutschland vorgemacht, als er mit Löwen-Geste jubelte: Sind am Samstag um 18 Uhr in Düsseldorf die elf Schweizer Löwen hungriger als die Three Lions auf der Gegenseite, ist alles möglich.