Der Neapolitaner Ponte und seine Geschichte mit der Schweiz
«Den Tschingg Raimondo gab es nie»

Die Schweiz und Italien. Eine Beziehung, die mit den Römern begann. Die über die Verunglimpfung Tschingg weitergeht. Und im Fall von Raimondo Ponte mit dem Shirt mit dem weissen Kreuz endet.
Publiziert: 28.06.2024 um 08:44 Uhr
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Aktualisiert: 28.06.2024 um 08:56 Uhr
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Raimondo Ponte erlebt die EM 2024 hautnah.
Foto: TOTO MARTI
Alain Kunz, Iserlohn

Ist es Zufall, dass sich die Familie Ponte in Windisch AG niederliess, als sie von Napoli in die Schweiz zog? Also in Vindonissa, so heisst Windisch auf Lateinisch, wo das einzige römische Legionslager auf Schweizer Boden stand? Raimondo Ponte (69) muss bei dieser zufälligen Koinzidenz, dass er sein Leben lang Italianità um sich herum gehabt hat, grinsen.

Achtjährig kommt er in die Schweiz, wo sein Vater Angelo bei der Schuhfirma Künzli arbeitet. Er hatte in Neapel eine eigene Schuhmacherei gehabt. Doch die Einnahmen hätten nicht mehr gereicht, um die Familie durchzubringen. Also geht er dorthin, wo es Arbeit gibt. Und Geld. 1800 Franken im Monat.

Hunderttausende kommen zu dieser Zeit. Schlecht geht es der Familie Ponte nicht. Das Wort «Tschingg», so Remo, wie alle Raimondo nennen, hört er immer wieder. «Es war in der Wahrnehmung ein Schimpfwort. Für mich hatte es die Bedeutung von ‹Drecks-Italiener›. Und es kam nicht von fünf, cinque, was naheliegen würde. Aber, und das muss ich hier klarstellen: Mich hat nie jemand in der Schweiz als ‹Tschingg› beschimpft!»

Überfremdungsinitiative belastete die Pontes

Nur in einem Punkt irrt Ponte. Tschingg kommt sehr wohl von fünf. Es kommt vom lombardischen «chinch» und geht auf das norditalienische Spiel Morà zurück, in welchem der Ausruf «cinch a la mòra» gebräuchlich ist. Aus Letzterem wurde im Dialekt Tschinggelemoore, aus Ersterem Tschingg.

Vielmehr als dieses Wort belastet die Pontes die Überfremdungsinitiative «dieses Schwarzenbach», sagt Ponte. «Wenn die durchgekommen wäre, hätten alle Einwanderer, die nicht arbeitstätig sind, in ihre Heimat zurückkehren müssen. Also meine Mutter und die vier Geschwister. Mein Vater hatte bereits alles für eine Rückkehr nach Kampanien vorbereitet.» Doch es ging knapp gut. Die Initiative wurde 1970 mit einem hohen Ja-Anteil von 46 Prozent dorthin geschickt, wo sie hingehört: in den Abfallkübel der Schweizergeschichte.

Remo seinerseits kickt damals beim FC Windisch, bis ihn Leute vom FC Aarau entdeckten. Das Wort Scouts gabs noch nicht. Und diese «Leute» fragten seine Eltern, ob er nach Aarau kommen wolle. «Meine Eltern hatten mit Fussball nichts am Hut und zögerten, weil sie nicht Auto fuhren und nicht wussten, wie ich zum Training nach Aarau kommen sollte.» Aber sie lenkten ein. Und so startete die grosse Karriere des kleinen Remo. Sie führt ihn via GC zu Nottingham Forest, wo er der erste Schweizer in Englands höchster Spielklasse ist, über Bastia zurück zu GC und nach Baden. Und, ja: 34-mal trägt er das Nati-Dress. So auch beim legendären 1:0-Sieg gegen den frischgebackenen Weltmeister 1982 in Rom.

«Ein Stein zischte an meinem Kopf vorbei»

Selbst sein Vater kriegt in dieser Fussballergeschichte noch eine Rolle. «Bei Künzli stellte er massgeschneiderte Schuhe her. Immer wieder meldeten sich die Stars bei ihm, um Schuhe zu bestellen. Weil er sie aber nicht kannte, musste er immer zuerst mich rufen, um zu wissen, wer Blättler, Künzli, Prosperi, Kuhn, Martinelli und Co. seien.»

Ponte bleibt der Schweiz nach seiner Aktivkarriere treu – mit einer einjährigen Ausnahme. «Als mein Bruder Carrarese Calcio kaufte, übernahm ich das Traineramt, beim eben von der Serie C2 in die Serie C1 aufgestiegenen Klub aus der Toskana. Dort träumten sie gleich vom Durchmarsch. Typisch italienisch … Es war kein schönes Jahr.» Und es endete furchtbar. Die Tifosi warfen Steine auf ihn. «Einer zischte knapp an meinem Kopf vorbei. Da ging ich schnurstracks nach Hause, wir packten unsere Siebensachen und fuhren zurück in unsere Heimat.» Und wenn es teurer Marmor gewesen wäre, mit er beschmissen wurde? Carrara-Marmor ist ja einer der bekanntesten der Welt. Heute kann Remo darüber lachen: «Dann hätte ich die Fans wohl gebeten, noch mehr zu werfen – und die Steine eingepackt.»

Heute macht der 69-Jährige nichts mehr im Fussball. Sein letztes Engagement als Trainer der Aarau-Frauen stellte sich als monumentales Missverständnis heraus und endete nach drei Spielen. Das Spiel am Samstag? «Soll der bessere gewinnen. Mir ist es egal. Ich bin so oder so ein Sieger.»

Die Nase vorne hat für ihn die Schweiz, die er als leichten Favoriten sieht.

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