Haifa setzt ihren Willen durch. Die 23-jährige Frau mit violettem Haar und Nasenpiercing lässt sich beim Riad-Derby zwischen Al-Hilal und Al-Nassr vor dem Stadion fotografieren. Ihr Begleiter ist skeptisch, rät ihr, wegzulaufen. Doch Haifa besteht auf ein Foto, will sich diese Entscheidung, dieses Stück Freiheit nicht nehmen lassen. Genauso wie sie an diesem Abend ohne Kopftuch aus dem Haus gegangen ist. Wenig später stimmen auch Dalya (19) und Sadeem (18) einem Foto zu. Beide tragen einen Niqab, den Gesichtsschleier. Sie freuen sich, wollen das Foto im Anschluss unbedingt zugeschickt bekommen.
Die drei Frauen sind an diesem Abend die Ausnahme. Die meisten, die zwei Stunden vor Anpfiff durch die Strassen laufen, winken ab. Eine Vierergruppe – alle mit Niqab und Al-Hilal-Schals – kichert beim Vorbeigehen. Ein Bild? Nein, das würden sie sich nicht getrauen: «Das dürfen wir nicht. Das ist gegen unsere Kultur.» Eine andere Frau meint: «Unsere Eltern sollen nicht wissen, wo wir sind.»
Viele Kopftücher – auch wenn es nicht Pflicht ist
Die Begegnungen vor dem King Fahd Stadium in Riad stehen sinnbildlich für den schmalen Grat zwischen politischer Öffnung und anhaltender Repression, auf dem sich saudische Frauen bewegen. Seit 2018 ist es ihnen offiziell erlaubt, Auto zu fahren. Auch dürfen sie mehr Jobs ausüben als früher. Unverheiratete können gemeinsam in Kinos oder Cafés gehen. Oder eben an einen Fussballmatch. Das Kopftuch ist nicht mehr Pflicht. Nicht wenige tragen es trotzdem noch – entweder aus eigener Überzeugung. Oder, weil es innerhalb der Familie so gewünscht wird.
Im Rahmen der Vision 2030 soll der Frauenanteil in Saudi-Arabien in der erwerbstätigen Bevölkerung auf 30 Prozent steigen. Laut Daten der Weltbank ist dieses Ziel schon jetzt deutlich übertroffen – wohl vor allem dank Fortschritten in den Millionenstädten Riad und Dschidda.
Den Frauen wurde in den vergangenen Jahren eine Reihe an neuen Freiheiten zugestanden. Doch von echter Gleichstellung ist das Land noch meilenweit entfernt. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch prangern an, dass auch durch das 2022 in Kraft getretene Personenstandsgesetz die Frau noch immer der Gehorsamspflicht untersteht.
Frauen-WM in Saudi-Arabien?
Menschenrechtsaktivistin Lina al-Hathloul (34) ist eine der bekanntesten Kritikerinnen der absolutistischen Erbmonarchie, sie weist immer wieder darauf hin, dass Frauen nach wie vor einem männlichen Vormund unterstellt sind. Finde etwa ein Mann, dass seine Frau unerlaubt verreist sei, könne sie wegen Ungehorsam im Gefängnis landen. Genauso wie Lina al-Hathlouls Schwester Ludschain, die sich für die Aufhebung des Fahrverbots eingesetzt hatte – und dafür mit ihrer Freiheit bezahlte. Mittlerweile ist sie zwar wieder entlassen worden, darf aber wie ihre Eltern das Land nicht mehr verlassen.
«Wenn ich lese, dass Saudi-Arabien auf die Austragung der Frauen-WM 2035 schielt, löst das bei mir Kopfschütteln aus: Den prestigeträchtigsten Event im Frauenfussball in einem Land auszutragen, das die Rechte von Frauen systematisch verletzt und Frauenrechtsaktivistinnen ins Gefängnis steckt, wäre Sportswashing pur», sagt Lisa Salza von Amnesty International.
Blick: Saudi-Arabien betont seinen Wandel und die Reformen zugunsten der Frauen öffentlichkeitswirksam. Ist das echte Veränderung oder mehr vordergründige Imagepolitur?
Lisa Salza: Soweit ich das einschätzen kann, findet der Wandel vor allem in Bezug auf die Teilhabe der Frauen am gesellschaftlichen und sozialen Leben statt. Also dort, wo er von aussen, insbesondere von Gästen aus dem Ausland, wahrgenommen werden kann. Wir beobachten eine vorsichtige Öffnung – das heisst: Frauen, die Autos fahren, in Kinos oder ins Fussballstadion dürfen. Das ist für die Frauen, die in den Genuss dieser Freiheiten kommen, sicherlich als Lichtblick zu werten. Aber mit Blick auf das Gesamtbild sind das alles Anpassungen, die dem Regime nicht wehtun. Es sind nur kosmetische Reformen.
Welche Probleme orten Sie nach wie vor?
Der Blick hinter die Kulissen zeigt: Jene Frauen, die sich für ihre Rechte einsetzen, riskieren nach wie vor, dass sie inhaftiert oder mit anderen Sanktionen belegt werden. Sinnbildlich dafür steht der Fall der Frauenrechtsaktivistin Salma al-Shehab, die wegen Posts auf X zu 34 Jahren Haft verurteilt wurde. Ebenfalls stossend sind die Lebensumstände der Frauen, die als Hausangestellte arbeiten und – von der Öffentlichkeit unbemerkt – häufig Gewalt und Zwangsarbeit ausgesetzt sind. Die Wurzel des Problems ist, dass Frauen nach wie vor einen männlichen Vormund haben. Verheiratete müssen ihrem Ehemann gehorchen. Das heisst im Klartext: Die Freiheit des weiblichen Geschlechts geht immer nur so weit, wie es ihr männlicher Vormund auch erlaubt. Und das ist absolut inakzeptabel.
Sind die von Ihnen erwähnten vorsichtigen Öffnungen nur ein Bild, das in den moderneren Grossstädten zu sehen ist? Oder ist auch auf dem Land ein solcher Trend denkbar?
Der Wandel ist sicher vornehmlich in den Städten wahrnehmbar, weil sich das gesellschaftliche Leben in erster Linie dort abspielt. Ausschlaggebend dafür, welche Freiheiten eine Frau wahrnehmen kann, ist aber die Einstellung des männlichen Vormunds: Ist dieser restriktiv, ist die Frau in ihren Freiheiten eingeschränkt. Auch in der Stadt. Eine weitere Rolle spielt die finanzielle Situation der Familie, denn der Zugang vieler Freiheiten ist eng verknüpft mit der Verfügbarkeit von Geld.
Was fordert Amnesty International von der saudischen Regierung?
Ganz klar, dass Frauen auf rechtlicher Ebene den Männern gleichgestellt werden. Das bedeutet: Die repressiven Vormundschaftsgesetze müssen abgeschafft werden. Und wir fordern ebenfalls, dass alle Anklagen gegen Frauenrechtlerinnen fallengelassen respektive inhaftierte Aktivistinnen freigelassen werden. Und: Frauen sollen vor Gewalt besser geschützt werden. Denn bislang ist es beispielsweise so, dass man aus dem Frauenhaus nur entlassen werden kann, wenn man einem männlichen Vormund übergeben werden kann. Das führt dazu, dass es für die betroffenen Frauen keinen Ausweg aus der Spirale der Gewalt gibt.
Lisa Salza ist bei Amnesty Schweiz verantwortlich für das Dossier Sport und Menschenrechte.
Blick: Saudi-Arabien betont seinen Wandel und die Reformen zugunsten der Frauen öffentlichkeitswirksam. Ist das echte Veränderung oder mehr vordergründige Imagepolitur?
Lisa Salza: Soweit ich das einschätzen kann, findet der Wandel vor allem in Bezug auf die Teilhabe der Frauen am gesellschaftlichen und sozialen Leben statt. Also dort, wo er von aussen, insbesondere von Gästen aus dem Ausland, wahrgenommen werden kann. Wir beobachten eine vorsichtige Öffnung – das heisst: Frauen, die Autos fahren, in Kinos oder ins Fussballstadion dürfen. Das ist für die Frauen, die in den Genuss dieser Freiheiten kommen, sicherlich als Lichtblick zu werten. Aber mit Blick auf das Gesamtbild sind das alles Anpassungen, die dem Regime nicht wehtun. Es sind nur kosmetische Reformen.
Welche Probleme orten Sie nach wie vor?
Der Blick hinter die Kulissen zeigt: Jene Frauen, die sich für ihre Rechte einsetzen, riskieren nach wie vor, dass sie inhaftiert oder mit anderen Sanktionen belegt werden. Sinnbildlich dafür steht der Fall der Frauenrechtsaktivistin Salma al-Shehab, die wegen Posts auf X zu 34 Jahren Haft verurteilt wurde. Ebenfalls stossend sind die Lebensumstände der Frauen, die als Hausangestellte arbeiten und – von der Öffentlichkeit unbemerkt – häufig Gewalt und Zwangsarbeit ausgesetzt sind. Die Wurzel des Problems ist, dass Frauen nach wie vor einen männlichen Vormund haben. Verheiratete müssen ihrem Ehemann gehorchen. Das heisst im Klartext: Die Freiheit des weiblichen Geschlechts geht immer nur so weit, wie es ihr männlicher Vormund auch erlaubt. Und das ist absolut inakzeptabel.
Sind die von Ihnen erwähnten vorsichtigen Öffnungen nur ein Bild, das in den moderneren Grossstädten zu sehen ist? Oder ist auch auf dem Land ein solcher Trend denkbar?
Der Wandel ist sicher vornehmlich in den Städten wahrnehmbar, weil sich das gesellschaftliche Leben in erster Linie dort abspielt. Ausschlaggebend dafür, welche Freiheiten eine Frau wahrnehmen kann, ist aber die Einstellung des männlichen Vormunds: Ist dieser restriktiv, ist die Frau in ihren Freiheiten eingeschränkt. Auch in der Stadt. Eine weitere Rolle spielt die finanzielle Situation der Familie, denn der Zugang vieler Freiheiten ist eng verknüpft mit der Verfügbarkeit von Geld.
Was fordert Amnesty International von der saudischen Regierung?
Ganz klar, dass Frauen auf rechtlicher Ebene den Männern gleichgestellt werden. Das bedeutet: Die repressiven Vormundschaftsgesetze müssen abgeschafft werden. Und wir fordern ebenfalls, dass alle Anklagen gegen Frauenrechtlerinnen fallengelassen respektive inhaftierte Aktivistinnen freigelassen werden. Und: Frauen sollen vor Gewalt besser geschützt werden. Denn bislang ist es beispielsweise so, dass man aus dem Frauenhaus nur entlassen werden kann, wenn man einem männlichen Vormund übergeben werden kann. Das führt dazu, dass es für die betroffenen Frauen keinen Ausweg aus der Spirale der Gewalt gibt.
Lisa Salza ist bei Amnesty Schweiz verantwortlich für das Dossier Sport und Menschenrechte.
Ob in den nächsten Jahren weitere Öffnungen zugunsten der Frauen stattfinden werden, bleibt abzuwarten. Das um sein Image bemühte Königreich setzt derzeit aber alles daran, zu zeigen, wie viele Fortschritte bereits erzielt wurden. Erste Frauen in exponierten Stellen – von Astronautin, über Botschafterin bis hin zu CEOs – werden jeweils öffentlichkeitswirksam beworben. Genauso wie die neuen Freiheiten für Mädchen, die seit ein paar Jahren (Schul-)Sport ausüben dürfen.
Die Mädchen, die sich endlich sportlich verwirklichen können, schätzen dies natürlich. Als Blick die Mahd Academy, das nationale Sportzentrum in Riad, besucht, stecken die beiden 14-jährigen Leichtathletik-Talente Areen und Warood mitten im Training. Letztere sagt danach: «Leichtathletik macht mich einfach happy – es ist mein Traum, eines Tages in meiner Sportart gross rauszukommen.»
Prinzessin steht Saudi Games vor
Unweit der Tartanbahn befindet sich das riesige Sportareal, auf dem gerade die 2022 ins Leben gerufenen Saudi Games stattfinden. Eine Art Olympische Spiele in Saudi-Arabien – für Einheimische, aber auch für interessierte Ausländer. Wie wichtig dieses Sportförderprojekt ist, zeigt sich daran, dass die Königsfamilie – wie oft bei wichtigen Anlässen – direkt involviert ist. In diesem Fall ist es Prinzessin Delayel Bint Nahar Al Saud, die den Saudi Games vorsteht. Sie erklärt beim Treffen mit Blick: «Wir wollen in der Gesellschaft ein Bewusstsein schaffen, dass es nun möglich ist, auf einem hohen Level Sport zu treiben.» Sowohl für Jungs, aber eben auch für Mädchen: «Es macht mich so glücklich, hier die Mädchen zu sehen – dass sie nun die Chance haben, sämtliche Sportarten auszuüben.»
Prinzessin Delayel betont, es sei ihr ein Anliegen, einen Event zu organisieren, der alle inkludiert. Wenige Meter von ihr entfernt geht derweil gerade der letzte Paralympics-Bewerb des Tages zu Ende. Auch Menschen mit Behinderung können hier in ihrem eigenen Turnier um den Sieg kämpfen.
Wer sich an den Saudi Games in seiner Sportart durchsetzt, gewinnt ein stattliches Preisgeld. Eine Million Riyal. Also umgerechnet rund 230’000 Franken. Vielen Frauen wäre wohl aber lieber, endlich so frei zu sein, wie sie es nur aus Netflix-Serien oder Besuchen in anderen Ländern kennen.