BLICK: Was ist verrückter dieses Jahr: Corona oder Ihre letzte und sechste Saison mit Ferrari?
Sebastian Vettel: Ich glaube, man kann die zwei Dinge nicht unbedingt miteinander vergleichen. Die Pandemie hat uns alle sicher mehr geschockt als die letzte Saison mit Ferrari. Vor allem ist das weltweite Thema nicht vom Tisch und strengt uns doch alle mehr an, weil unsere Freiheiten immer mehr eingeschränkt werden. Neben Corona spielt der Sport da wirklich eine untergeordnete Rolle.
Wie oft wurden Sie auf dieses teuflische Virus getestet?
Seit Saisonbeginn im Juli würde ich sagen, alle drei Tage. Dann kommen wir auf rund 60 Tests. Zum Glück immer negativ.
Wie oft war Ihre Loyalität negativ – und an der Schmerzgrenze?
Wenn man sechs Jahre in einem Team fährt, dann gibt es immer wieder Dinge, die sind gut oder nicht gut. Man geht gemeinsam durch die Krise. Das ist normal. Ich gehörte in den Höhen genauso dazu wie in den Tiefen. Schmerzgrenze ist da vielleicht etwas übertrieben.
Wenn einem am 12. Mai, also zwei Monate vor dem Saisonstart gekündigt wird, muss das vor allem das Selbstvertrauen und die Motivation angreifen.
Na, gekündigt ist ja eigentlich falsch. Man hat einfach meinen Vertrag nicht verlängert. Ich hätte damals das gleiche tun können. Natürlich waren von diesem Tag an die Vorzeichen für die neue Saison schon anders als in den früheren Jahren. Aber noch trauriger sind die Leistungen, die dieses Jahr so schlecht waren. Wir haben ja kein konkurrenzfähiges Auto gehabt. Und der 6. WM-Rang wird bei Ferrari auch nicht in die Geschichte eingehen (lacht).
Wie oft haben Sie wirklich ernsthaft an einen Rücktritt gedacht?
Da ich bei Ferrrai keine Zukunft mehr hatte, tauchte natürlich sofort die Frage auf: Was machst du 2021? Und da die grossen Cockpits alle belegt waren, habe ich schon lange nachdenken müssen. Da schliesst man natürlich auch einen Rücktritt nicht aus.
Und was brachte Sie ins Geschäft zurück?
Na ja, die Formel 1 war seit über zehn Jahren der Mittelpunkt meines Lebens. Aber es gibt im Leben auch viele andere und vor allem wichtigere Dinge als unseren Sport. Trotzdem bin ich zu dem Entschluss gekommen, dass noch etwas in mir schlummert. Und so kamen dann eben die Kontakte zum neuen Team von Aston Martin.
Wir wissen, dass Sie sich in einem Team nur wohlfühlen, wenn die Nestwärme stimmt – und die haben sie 2020 wohl nur bei Ihrer Familie gefunden…
Ich glaube, dass für alle Fahrer das Umfeld sehr wichtig ist, um die Leistung zu bringen. Vielleicht ist der eine da etwas anfälliger auf Nebengeräusche als der andere. Aber gerade in diesen schwierigen Zeiten ist es ein enormer Rückhalt, wenn man eine intakte Familie hinter sich weiss.
Ein oft unfahrbares Auto, ein schwacher Motor, der schlechteste WM-Platz – und 13 Mal in Serie am Samstag nicht im Top-Ten-Finale. Brutaler gehts kaum. Da wären Sie 2020 sicher oft gerne in den Racing Point-Mercedes, der 2021 ja Aston Martin heisst, gestiegen…
Ja sicher. Aber mir war auch klar, dass ich bei Ferrari meine Arbeit noch zu Ende bringen musste. Ich bin kein Freund von Abkürzungen. Der Weg musste einfach bis Abu Dhabi gegangen werden. Auch wenn wir uns das Finale sicher anders vorgestellt hatten.
Kimi Räikkönen war beim Wüsten-Finale im Alfa-Sauber als 12. der beste Fahrer mit einem Ferrari-Motor. Vor Leclerc und Ihnen. Da ist man über das Saisonende sicher nur noch erleichtert?
Natürlich. Jetzt freue ich mich einfach auf das neue Team, das neue Auto und das neue Umfeld.
Kein dumpfes Gefühl, dass wegen Ihnen Sergio Pérez gehen muss?
Das war ja nicht meine Entscheidung. Ich komme übrigens sehr gut mit Checo aus. Nach seinem Sieg in Bahrain haben wir zusammen angestossen und sogar die Helme getauscht! Ich habe mich für ihn gefreut. Weil der erste Sieg immer was Spezielles bleibt. Wie bei mir 2008 mit Toro Rosso in Monza. Und Pérez sollte eigentlich ein neues Team finden. Denn so einen Fahrer darf sich niemand durch die Lappen gehen lassen.
Sechs Jahre bei Ferrari: Was haben Sie als Pilot und als Mensch gelernt?
Ich glaube, da steht die Zwischenmenschlichkeit im Vordergrund. Da hatte ich es vor allem mit Kimi sehr gut. Diese Jahre haben mich geprägt. Auch das Umfahren von Problemen, wenn das Auto nicht so stark ist, reift einem als Menschen und Fahrer. Die gemeinsame Zeit mit Charles war ebenfalls sehr hilfreich, weil wir beide an einem andern Ort unserer Karrieren stehen. Und da habe ich mich sehr oft in ihm gesehen. Ich glaube, Leclerc ist das grösste Talent, dem ich in den letzten 15 Jahren begegnet bin. Geprägt hat mich auch das Team und die Kultur von Ferrari. Das Leben ist überall ein Lernprozess. Und da passiert eben viel auch im Unterbewusstsein.
Sie sind der letzte Ferrari-Sieger – 2019 in Singapur. Wann gewinnen die Roten wieder?
Eine schwierige Frage. Aber ich bin ja auch der letzte Ferrari-Pilot auf dem Podest. In der Türkei (lacht). Ich wünsche dem Team natürlich in Zukunft nur das Beste. Da sich 2021 am Reglement nicht viel ändert, wird Mercedes weiter in der klaren Favoritenrolle sein. Vielleicht reichen jedoch auch ein neuer Unterboden oder die neuen Reifen, um an der Spitze etwas zu bewegen. Ich war natürlich schon länger nicht mehr in das Entwicklungsprogramm in Maranello eingebunden. Jetzt konzentriere ich mich einfach nur noch auf das, was vor mir liegt.
Wie gehen Sie mit Kritik um? Vor allem, wenn meist nur der Teamkollege gelobt wird…
Ich glaube, Kritik gehört überall dazu. Und der Leitsatz gilt weiter: Man ist nie so gut, wie die Leute sagen – und man ist aber auch nie so schlecht, wie die Leute sagen. Da muss man selbst die goldene Mitte finden. Klar, manchmal haben die Kritiker recht, aber manchmal eben nicht. Ich bin da sehr offen, weil ich meine Schwächen und Stärker sicher am besten kenne. Und ich habe sicher einige Fehler gemacht. Darüber müssen wir gar nicht diskutieren.
Sind Sie 2020 immer im gleichen Auto gesessen wie Charles Leclerc?
Theoretisch fahren wir natürlich zwei verschiedene Autos, aber irgendwo auch das gleiche. Sagen wir es mal so: ich gehe davon aus, dass wir das gleiche Material hatten. Ich denke schon, weil ich den Jungs in der Garage vertraue. Und ich möchte da niemanden etwas Böses anhängen.
Hat Sie in der Krise einmal ein Rennfahrerkollege aufgemuntert?
Ja. Gerade nach den schlechten Nachrichten im Frühjahr hat mich Lewis angerufen. Wir führten dann noch einige Gespräche oder schrieben uns. Er hat mich immer aufgemuntert und zum Weitermachen motiviert. Und ich hatte einige Gründe, ihm zu seinen grossartigen Erfolgen zu gratulieren. Lewis hätte sicher oft einen Grund gehabt, mit mir Mitleid zu haben (lacht). Wegen Corona mussten ja diese Saison die gemeinsamen Gespräche im Fahrerlager ausbleiben.
Mit Ihren 14 Siegen, 12 Pole-Positionen und 1400 Punkten für Maranello sind Sie der dritterfolgreichste Ferrari-Pilot nach Schumi (72) und Lauda (15). Aber das klar vorgegebene Ziel vom WM-Titel haben sie verpasst…
Ja, wir sind gescheitert. Das ist am Ende des Tages leider die Bilanz. Es gibt für die missglückte Mission natürlich mehr als nur einen Grund. Aber man sollte den verpassten Zielen nie lange nachweinen.
Eine neue Aufgabe steht Ihnen 2021 noch bevor. Mit Mick Schumacher haben Sie im Fahrerfeld wieder einen Deutschen neben sich.
Ich freute mich riesig, als er das Cockpit bei Haas bekommen hat. Ein verdienter Aufstieg nach dem tollen Formel-2-Meistertitel. Doch er weiss es natürlich selbst, dass es kein einfaches Jahr werden wird, dass er nicht mit dem Knaller der Formel 1 unterwegs ist. Mick kann jederzeit zu mir kommen. Ich bin für ihn da – wie es einst sein Vater Michael für mich war. Jetzt kann ich etwas zurückgeben.
Weihnachten steht vor der Türe. Was bedeutet das für einen dreifachen Familienvater?
Ich war nach Abu Dhabi einfach froh, dass ich nach drei Wochen wieder nach Hause konnte. Natürlich wird Weihnachten diesmal für alle Menschen auf dieser Welt etwas anders. Aber noch wichtiger ist es meiner Frau und mir, dass unsere Kinder weiter mit den Werten aufwachsen, die im Leben wirklich zählen: Ehrlichkeit, Respekt und Menschlichkeit!