Für Biel hätte ein Meistertitel mehr bedeutet als für jede andere Stadt in der Schweiz. Wer verstehen will, wieso, muss den Interregio 65 nach Bern nehmen. So wie das viele Bielerinnen und Bieler tun, die zur Arbeit in die Bundesstadt pendeln. Der Zug hält auf Gleis 49, einem provisorischen, grösstenteils unbedeckten Perron ausserhalb des sich im Umbau befindenden Bahnhofs. Die Bielerinnen und Bieler werden dort nicht nur bei Regen nass, sie verpassen oft auch ihre Anschlüsse, weil der Fussweg zu den anderen Gleisen so lang ist.
Biel auf dem Abstellgleis. Biel im Regen.
Klar, darüber kann man lachen. Auch in Biel. Vor allem jetzt, wo man den SC Bern schon im Viertelfinal aus den Playoffs geschossen hat. Spass hin oder her: Das Abstellgleis 49 ist eine Parabel auf die Geschichte dieser Stadt. Und die ist hart. Aber sie hätte ein Happy End verdient.
Biel war mal die Werkbank der Schweiz. General Motors baute hier ab den 30er-Jahren Cadillacs und Opel für die Schweiz – und viele Fabriken Uhren für die ganze Welt. Die Stadt boomte, bis zum Kollaps in den 70er-Jahren. GM zog weg. Die Uhrenindustrie starb einen vorübergehenden Tod. Es kamen Arbeitslosigkeit, Abwanderung, Armut.
Mit der Stadt steigt auch der EHC Biel ab
Biel wurde zur Kehrseite der Schweiz. Wer hier in den 90er-Jahren aufwuchs, der hatte Kolleginnen und Kollegen, die in die Drogen abdrifteten. Oder kriminell wurden. Oft beides. Die Schweiz starrte schockiert Richtung Zürcher Platzspitz, in Biel spritzen die Junkies Heroin im Schatten der Altstadt.
Das Hockey begleitet den Niedergang der Stadt. Mitte 90er-Jahre stieg der EHCB in die Zweitklassigkeit ab – und blieb dort jahrelang. Im Stadion sanken die Zuschauerzahlen. In der Stadt schwand die Bevölkerung von einst 64'333 (1970) auf 48'655 Einwohner (2000).
Jene, die blieben, entwickelten einen trotzigen Stolz. «Ici, c’est Bienne», skandiert man bis heute in der Tissot-Arena, wenn man wieder mal ein Team aus einer dieser Boom-Städte bodigt, wo das Studio so viel Miete kostet wie hier ein Haus. «Ici, c’est Bienne.» Was man damit sagen will: Ihr seid reich, aber wir sind Biel. Hätte die Schweiz einen Bruce Springsteen, er käme von hier. Das Stadtwappen besteht aus zwei Beilen – und ist omnipräsent im Stadtbild. Als Sticker, Tätowierung oder auf den vielen Fahnen des EHCB.
Das Wappen signalisiert: Wer diese Stadt unterschätzt, bekommt es zu spüren. Ein reales Beispiel: Bund und Kanton wollten ein gigantisches Autobahnprojekt durch Biel hämmern – die wilden Bieler sagten «Non» und gingen so lange auf die Strasse, bis die Behörden Ende 2020 die Übung entnervt abbrachen.
Biel sollte man nicht romantisieren
Die Stadt hat sich aufgerappelt in den vergangenen zehn Jahren. Dank der Wiedergeburt der Uhrenindustrie. Und im Gleichschritt mit dem EHCB, der seit 2008 wieder erstklassig ist. Biel hat 56'000 Einwohnerinnen und Einwohner – und nimmt heute viele auf, die in den grossen, reichen Schweizer Städten keinen Platz mehr finden: Ausländer, Familien, Junge. Menschen, die sich das Leben in den Wirtschaftszentren nicht mehr leisten können oder wollen – und trotzdem in einer Stadt wohnen möchten. Unter ihnen viele Romands. 43 Prozent reden Französisch. Zweisprachigkeit ist in Biel so selbstverständlich, dass man manchmal vergisst, wie einzigartig das ist (Vergessen Sie Freiburg, die Stadt ist welsch!).
Romantisieren sollte Biel trotzdem niemand. Sozialhilfequote: 10,2 Prozent, nur La Chaux-de-Fonds hat eine höhere Quote. Verschuldung: 800 Millionen Franken. Steuern: hoch. Polizeisirenen gehören zum Soundtrack der Stadt, es gibt Probleme mit Jugendbanden.
Biel ist hart. Aber Biel hat Herz. Wer ankommt, gehört dazu. Menschen aus 140 Ländern (Ausländeranteil 33,3 Prozent) leben hier – und viele Zugewanderte aus der ganzen Schweiz. So offen wie die Stadt ist, ist auch der EHCB. Sein Einzugsgebiet reicht weit über die Stadt hinaus ins ländliche Seeland – in Dörfer, die mit Biel wenig gemein haben, ausser der Liebe zum Hockey. Bis in die wilden Hügel des Berner Juras – wo Fans für den Hockey-Club brennen. Tête de Moine trifft auf Treberwurst und Kebab.
Im Bahnhof Bern steigen die Bieler weiterhin in Pfützen aus. Immer wieder schickte die BLS auch eine S-Bahn nach Biel, die in den Farben des SCB bemalt war. Biel hat sich über die Jahre an vieles gewöhnt. Gewinnen gehört nicht dazu. Und darum gilt: Wer jetzt nicht etwas traurig ist, dass diese Stadt nicht Meister wurde, kommt aus Genf, hat kein Herz – oder ist Berner.