Mitte-Politiker Martin Landolt rechnet mit Parlament, Bundesrat und Kantonen ab
«Da wird Leadership nicht wahrgenommen»

Der neue Santésuisse-Präsident Martin Landolt plädiert für ein landesweites Spitalgesetz. Der Mitte-Nationalrat sieht die Zeit für frische Köpfe in der Regierung – und kritisiert die Wutbürger-Kultur im Bundeshaus.
Publiziert: 18.09.2022 um 00:00 Uhr
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«Man muss sich permanent rechtfertigen, wenn man verschiedene Hüte trägt», sagt Landolt.
Foto: Keystone
Interview: Simon Marti und Reza Rafi

SonntagsBlick: Ihr Verband rechnet mit einem Prämienschub von zehn Prozent. Für mittelständische Familien ist das eine riesige Belastung. Sie sind bald 100 Tage Präsident von Santésuisse. Was haben Sie sich da für eine Rolle ausgesucht?
Martin Landolt:
Es ist nicht so, dass es uns Spass macht, solche Botschaften zu verkünden. Aber es gehört zu unserer Aufgabe zu erklären, dass die Kosten steigen und weshalb sie steigen, sowie Vorschläge zu machen, um dies zu verhindern. Wir sind der Überbringer der schlechten Nachricht, nicht die Verursacher.

Wer sind aus Ihrer Sicht die Schuldigen?
Neben dem eigentlichen Kostenanstieg gibt es diesmal einen Sondereffekt, weil viele Behandlungen wegen Corona aufgeschoben wurden. Und es wurden letztes Mal auf politischen Druck die Kosten nicht voll auf die Prämien überwälzt, sondern die Reserven angezapft. Das war gut gemeint, darf aber nicht Schule machen.

Das Manöver hat im Grunde nichts gebracht: Jetzt haben wir eine Inflation, steigende Energiepreise und dazu den Prämienhammer.
Ich will das im Nachhinein nicht kritisieren. Es war gut gemeint, aber man hat sich damit keinen Gefallen getan. Die Politik hätte damals schon wissen müssen, dass dieses Konzept nicht nachhaltig ist.

Zum Sondereffekt kommt ein happiges Kostenwachstum, das Ihr Verband auf 6,4 Prozent schätzt.
Es gibt ein legitimes Kostenwachstum, etwa bei der Pflege, die mit der gesellschaftlichen Entwicklung wichtiger wird. Allerdings bleiben Möglichkeiten ungenutzt, das Wachstum zu dämpfen, weil Parlament, Kantone und der Bundesrat zu wenig unternehmen.

Das hören Prämienzahler und Parlamentarier seit Jahren. Die Gesundheitskosten steigen trotzdem immer weiter. Wo stockt es?
Auf allen Ebenen. Wenn etwa ein Generikum in der Schweiz doppelt so viel kostet wie im Ausland, kann man das weder mit Kaufkraftunterschieden noch mit gesundem Menschenverstand begründen. Das muss jemand korrigieren. Ein anderes Beispiel ist die Ärztedichte, die beispielsweise in Genf fünfmal höher ist als im Kanton Obwalden. Ich bin überzeugt: Wenn in Genf morgen jemand eine Arztpraxis eröffnen wollte, gäbe es dafür trotzdem wieder eine Bewilligung. Da wird Leadership nicht wahrgenommen.

Wie optimistisch sind Sie, dass Sie eines dieser Probleme lösen können?
Wir sind überzeugt, dass man die Kosten mit mehr Pauschalen, ergänzt durch Einzelleistungstarife, senken kann. Gerade die Arzttarife gehören zu den Kostentreibern. Vom Spitalbereich weiss man, dass die Kosten dank Pauschalen weniger steigen. Da bin ich sehr zuversichtlich. Ich nehme es als Privileg wahr, dass ich von aussen hineingekommen und nicht vorbelastet bin.

Wann legen Sie eine Lösung vor?
Wir werden wohl noch in diesem Jahr eine neue nationale Tariforganisation gründen, an der alle Tarifpartner beteiligt sind.

Das Schweizer Gesundheitssystem ist von Teilinteressen geprägt. Bräuchte es eine Zentralisierung?
Auf einer grünen Wiese würde man das System heute anders aufbauen. Aber es ist nun mal in einem föderalistischen Staat historisch so gewachsen. Mir wäre es lieber, die Kantone würden von sich aus ihre Verantwortung stärker wahrnehmen.

Was meinen Sie da konkret?
Bei den Ärztezulassungen hätten die Kantone die Möglichkeit, koordiniert vorzugehen, um teure Ineffizienzen auszumerzen. Ebenso bei den Spitälern. Man weiss aber, dass die Schliessung einer Klinik für einen Regierungsrat das Karriereende bedeuten kann. Weshalb es möglicherweise helfen würde, auf nationaler Ebene eine gesetzliche Grundlage zu schaffen, die den Kantonsregierungen Rückendeckung gibt. Ein nationales Spitalgesetz, das dem Föderalismus Rechnung tragen würde, aber gleichzeitig die Angebotsbündelungen forciert, wäre darum prüfenswert. Wir wären schon einen Schritt weiter, wenn nicht jedes Spital alles anbieten würde.

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Sie haben es vorhin als Vorteil bezeichnet, dass Sie nie Gesundheitspolitiker waren. Ihre Kritiker jedoch werfen ihnen Unerfahrenheit vor. Ist der passionierte Jäger Martin Landolt auch ein passionierter Pöstchenjäger?
(Lacht) Zunächst hat sich der passionierte Pöstchenjäger in einem professionellen Rekrutierungsprozess auf eine Stelle beworben, die ausgeschrieben war, und er war wohl auch nicht der einzige Kandidat. Ich sass zwar nie in der nationalrätlichen Gesundheitskommission, konnte mich aber als Parteipräsident diesem Thema nicht verweigern. Dazu war ich sieben Jahre im Vorstand der Glarner Krankenversicherung. Ich empfinde mich also keineswegs als kompletter Laie.

Trotzdem: Haben es die Parlamentarier nicht übertrieben mit den Mandaten und Doppelrollen – gerade im Gesundheitsbereich?
Heute ist das schwieriger geworden. Man muss sich permanent rechtfertigen, wenn man verschiedene Hüte trägt. Das hat viel mit Kritik der Gegner, auch mit den Medien zu tun. Allerdings kann die angeblich so mächtige Kassenlobby gar nicht so mächtig sein. Sonst hätte sie viel mehr zustande gebracht, und die Prämien wären tiefer. Aber man misst die Lobbyisten der Krankenkassen nicht mit der gleichen Elle wie etwa die Lobbyisten der Ärzte, der Spitäler oder der Pharma. Wer Mandate im Krankenkassen- oder Finanzbereich hat, wird kritisiert – wer sie im Tourismus oder bei einem Altersheim hat, gilt als unverdächtig.

Also alles nur ein Problem der Kritiker?
Vor zehn Jahren war dieses System opportun, heute funktioniert es nicht mehr. Wenn das nicht mehr akzeptiert wird, ist man gut beraten, die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ob es uns Politikern passt oder nicht.

Der Nationalrat will die Löhne der Kassenmanager deckeln.
Das ist ein Ausdruck von Ratlosigkeit, der von den eigentlichen Herausforderungen ablenken soll.

Persönlich

Martin Landolt (54) machte eine Lehre bei der Glarner Kantonalbank. Er sitzt seit 2009 für den Kanton Glarus im Nationalrat. Zunächst Mitglied der SVP, wechselte er nach Eveline Widmer-Schlumpfs Wahl zur Bundes­rätin in die BDP, die er von 2012 bis zur Fusion mit der Mitte 2021 präsidierte. Er ist Vater dreier Töchter und lebt in Näfels.

Martin Landolt (54) machte eine Lehre bei der Glarner Kantonalbank. Er sitzt seit 2009 für den Kanton Glarus im Nationalrat. Zunächst Mitglied der SVP, wechselte er nach Eveline Widmer-Schlumpfs Wahl zur Bundes­rätin in die BDP, die er von 2012 bis zur Fusion mit der Mitte 2021 präsidierte. Er ist Vater dreier Töchter und lebt in Näfels.

Sie gehören zu den wenigen, die in drei Parteien politisiert haben. Sind Sie zufrieden, dass Ihre politische Laufbahn ihren Abschluss in der Mitte findet?
Ja, denn ich bin kein anderer als vor 25 Jahren, einfach 25 Jahre älter und erfahrener. Ich habe die politische Heimat gewechselt, mein Kompass blieb derselbe. Die SVP veränderte sich damals in einem Mass, dass ich gehen musste. Der Zusammenschluss von BDP und CVP ist extrem sinnvoll, er bedeutet für mich keine Umstellung. Ich bin happy.

Nur hat die Abspaltung der BDP von der SVP längerfristig nichts bewirkt, die Volkspartei politisiert weiter auf ihrem gewohnten Kurs und hat nichts von ihrer Stärke eingebüsst.
Es hat nicht dazu gereicht, etwas wachsen zu lassen, das Bestand hat. Das bedaure ich, aber wir kamen mit der BDP an einen Punkt, an dem wir das akzeptieren mussten.

Nun sind Sie wieder in einer Partei, die ihren Sitz im Bundesrat legitimieren muss.Das müssen alle Parteien. Alle müssen heute Zeit und Ressourcen in Wahlkämpfe und Kampagnen investieren, statt in echte politische Arbeit. Das gefällt mir nicht, aber es ist eine Realität, die längst auch in den Kantonen spürbar ist. Für eine Parteileitung ist die Hälfte der Legislatur geprägt von Wahltaktik. Diese Zeit fehlt für Sachpolitik.

Hat sich diese Tendenz verstärkt?
Vor 20 Jahren hat man wahrscheinlich dreieinhalb Jahre gearbeitet und dann sechs Monate Wahlkampf betrieben.

Und wir haben einen Bundesrat, der aktuell aus sieben Einzelkämpfern besteht.
Das ist auch mein Eindruck. In den Departementen wird oft gute Arbeit geleistet. Aber die Regierung als Gremium habe ich schon besser und solidarischer erlebt. Viele Entscheide sind blockiert, jeder duckt sich weg.

Was fehlt diesem Bundesrat?
Vielleicht die Alphatiere mit starken Meinungen und Führungsanspruch, die auch mal aneinandergeraten. Figuren wie Couchepin, Leuenberger, Calmy-Rey.

Einen prominenten Namen haben Sie nicht genannt.
Es gibt noch andere. Ich habe vor allem die Zeit in bester Erinnerung, als im Bundesrat eine Frauenmehrheit dominierte.

Wird es Zeit für einen Rücktritt in der Regierung?
Es wird Zeit für neue Impulse. Ich sage nicht, wer gehen soll, aber die heutige Lähmung müssen wir irgendwie überwinden.

Energieministerin Simonetta Sommaruga wird von der SVP hart angegangen. Nationalrat Christian Imark sagte am Dienstag, sie habe bald mit mehr als Rücktrittsforderungen zu rechnen. Erinnern Sie solche Angriffe an die Ära von Eveline Widmer-Schlumpf, in der Sie ja Präsident der BDP waren?
Das erinnert mich nicht nur an diese Zeit, es bestätigt meine Wahrnehmung der letzten Jahre. Seit 2015 sitzen Leute im Parlament, die gewählt worden sind, weil sie das Wutbürgertum bewirtschaften. Dieses Konzept brachten sie mit ins Parlament.

Welche Folgen hatte das?
Auch auf der Gegenseite wird gepoltert, obschon Polarisierung die schlechteste Antwort auf Polarisierung ist. In parlamentarischen Debatten werden die Grenzen schleichend verschoben. Es gibt nie einen grossen Einzel-Skandal, aber lauter kleine Skandälchen. Inzwischen wird diese Stimmung sogar in die Kommissionen hineingetragen: vorgefasste Meinungen, Zwischenrufe, persönliche Angriffe. Das ist keine Kultur, die in eine parlamentarische Kommission gehört.

Obwohl das Publikum in den Kommissionssitzungen fehlt.
Niemand gewinnt etwas mit dieser Polemik in einer Kommission. Das macht es ja so besorgniserregend! Und wer erst seit drei Jahren im Parlament sitzt, kennt es gar nicht anders. Aber das ist zum Teil auch ein Spiegelbild der Gesellschaft: Wer am Stammtisch wütet, muss immerhin mit einem Konter rechnen, ein anonymer Online-Kommentar braucht keinen Mut.

Nicht gerade ein positives Fazit am Ende Ihrer parlamentarischen Karriere.
Es geht ein gewisses Mass an Respekt verloren. Niemand muss einem Landolt mit Ehrfurcht begegnen, aber dem Amt, das ich für eine beschränkte Zeit leihweise innehaben darf, dem muss man Respekt entgegenbringen. Die Lage wird nicht besser, wenn sogar wir Parlamentarier untereinander den Anstand vermissen lassen.

Müssen die Debattenleiter im Präsidium härter durchgreifen?
Ich würde mir wünschen, dass in Kommissionen und im Plenum rascher und deutlicher eingegriffen wird. Sobald man eine Grenzüberschreitung zulässt, werden die Ausfälle normal. Als ich 2009 frisch in Bern anfing, stellte Chiara Simoneschi-Cortesi als Nationalratspräsidentin Christoph Mörgeli einmal das Mikrofon ab. Diese Art der Sitzungsleitung vermisse ich.

Werden Politikerinnen härter angegangen als Politiker?
Ja. Womöglich gehen manche Männer davon aus, dass Frauen nicht im gleichen Ton antworten, weil sie sich tatsächlich nicht auf dieses Niveau herablassen wollen. Diese Reaktion ist vielleicht verständlich, aber vielleicht wäre eine harsche Reaktion manchmal heilsamer.

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