«Soll ich bis 70 im Dreischichtbetrieb arbeiten?»
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Pflegerin Daniela Agostini:«Soll ich bis 70 im Dreischichtbetrieb arbeiten?»

AHV-Streitgespräch im Altersheim
«Es ist kein Problem zwischen Mann und Frau» – «Doch, doch»

Sie hofft, nicht bis 65 arbeiten zu müssen, weil es ihre Gesundheit ruinieren würde. Er hofft, dass für seine Generation überhaupt einmal eine AHV ausbezahlt wird.
Publiziert: 18.09.2022 um 16:59 Uhr
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Aktualisiert: 18.09.2022 um 19:04 Uhr
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Soll das Rentenalter steigen?
Foto: Zamir Loshi
Interview: Tobias Marti

SonntagsBlick lädt zum Streitgespräch ins Winterthurer Alterszentrum Adlergarten. Wo könnte besser über die AHV-Abstimmung und generell über eine Erhöhung des Rentenalters diskutiert werden als in einem Altersheim? Es nimmt Platz: Daniela Agostini (52), die seit 30 Jahren in der Pflege arbeitet. «Dreischichtbetrieb ist Raubbau am Körper», sagt sie. Sie arbeitet Vollzeit. Ein Jahr länger zu arbeiten, dazu sei man überhaupt nicht mehr in der Lage. Die Vorlage, das Rentenalter der Frauen zu erhöhen, lehnt sie ab. Ihr gegenüber sitzt Matthias Müller (30), Politiker, angehender Wirtschaftsanwalt und Präsident der Jungfreisinnigen Schweiz. Er ist für die AHV-21-Reform, seine Partei möchte zudem per Initiative das Rentenalter auf 66 erhöhen. Die beiden könnten unterschiedlicher nicht sein. Wie will der Politiker die Bürgerin davon überzeugen, bald länger zu arbeiten?

Matthias Müller: Frau Agostini, was haben Sie für einen Jahrgang?

Daniela Agostini: 1970, genau die Generation, die nicht mehr von den Ausgleichsmassnahmen profitieren würde. Diese AHV-Reform ist unsozial und kommt zum falschen Zeitpunkt. Nicht das Rentenalter, sondern die Arbeitsbedingungen müssen geändert werden. Die AHV-Initiative ist kein Generationenproblem, sondern eine Frage zwischen Arm und Reich. Sie trifft die Frauen, weil viele gesundheitlich oder familiär nicht voll arbeiten können. Wenn die Reform angenommen wird, ist das der Anfang des längeren Arbeitens. Soll ich mit 67 mit dem Rollator arbeiten gehen?

Müller: Das Rentenalter 67 steht am 25. September nicht zur Diskussion. Es geht um Rentenalter 65 für Frauen und Männer. Ich kenne den Schichtbetrieb von meiner Mutter her, die auch im Heim gearbeitet hat. Diese Leidenschaft, die sehe ich bei Ihnen auch. Wegen der Arbeitsbedingungen stimme ich Ihnen zu, das war ja der Anlass zur Pflege-Initiative. Ich stimme Ihnen ebenfalls zu, dass es kein Generationenproblem ist. Aber es ist eben auch kein Problem zwischen Mann und Frau.

Agostini: Doch, doch. So wie die Initiative formuliert ist, geschieht das auf Kosten der Frauen.

Müller: In der ersten Säule gibt es keine Benachteiligung der Frauen. Die Männer zahlen zwei Drittel der Beiträge ein, aber 55 Prozent der Altersrenten gehen an die Frauen. Es ist doch ungerecht, dass Männer und Frauen nicht im gleichen Alter pensioniert werden. Die AHV ist leider ein akuter Sanierungsfall. Ohne Reform haben wir bis 2032 ein kumuliertes Defizit von 18 Milliarden Franken. Irgendjemand muss das bezahlen. Wenn wir nichts tun, werden es die Jungen sein. Mir ist die Zukunft der AHV sehr wichtig.

Agostini: Ich sehe das anders, seit Jahrzehnten wird da schwarzgemalt. Die AHV ist solide, das Umlageverfahren funktioniert. Jetzt gehen alle Babyboomer in Rente – das kostet natürlich, betrifft aber eine endliche Zeitspanne. Dann kommen wieder geburtenschwache Jahrgänge. Die Lösung ist nicht, das Rentenalter zu erhöhen, sondern die Löhne zu harmonisieren. Solange wir Frauen für die gleiche Arbeit weniger verdienen, bleibt das Problem ungelöst. Wir Frauen leisten so viel mehr Care-Arbeit, die einfach nicht bezahlt wird. Das grosse Problem ist die zweite Säule. Viele Frauen können dort gar nicht erst einzahlen, weil sie gar kein Einkommen über 21 000 Franken haben.

Müller: Ja, die Reform der zweiten Säule muss zugunsten der Frauen und Jungen ausgehen. Weil Frauen öfter in Tieflohnbranchen und öfter Teilzeit arbeiten, können sie weniger sparen. Care-Arbeit lag in der Vergangenheit stark bei den Frauen. Aber ich bin 30, wir jungen Männer haben ein anderes Rollenverständnis. Meine Freundin und ich teilen uns die Haushaltsarbeit. Und die beiden Säulen haben nichts miteinander zu tun. Es bleibt das Finanzierungsproblem der AHV, das wir mit dieser kleinen Angleichung des Rentenalters lösen müssen. Die Demografie ist eben gerade kein endliches Problem. Die Lebenserwartung nimmt stetig zu. Die AHV-Reform trägt dieser Entwicklung Rechnung.

Agostini: Wenn die Reform angenommen wird, arbeite ich ein Jahr länger, zahle ein Jahr länger ein, kann mir weniger leisten. Und wie soll ich mit tiefem Lohn und tiefer Rente auch noch einer Mehrwertsteuer-Erhöhung zustimmen? Dann habe ich ja gar nichts mehr im Portemonnaie. Wir müssen dafür sorgen, dass mehr Leute arbeiten können und in die AHV einzahlen. Ich denke an bezahlbare Kitas, damit mehr Frauen arbeiten können. Und was ist mit jenen im Alter ab 50 bis 64, die aus dem Arbeitsleben gedrängt werden? Meine Mutter arbeitete im Detailhandel, als sie 62 wurde, machte ihre Filiale dicht. Nach vielen Bewerbungen musste sie sich am Ende früher pensionieren lassen – mit massiven Rentenkürzungen.

Müller: Die Leute kurz vor ihrer Pensionierung zu entlassen, ist missbräuchlich, dem muss man entgegenwirken. Um solche Schicksalsschläge abzufedern, hat das Parlament die neue Überbrückungsrente geschaffen. Aber dieses Bild, dass die Älteren massenhaft arbeitslos sind, ist falsch. Was zutrifft: Wenn Ältere arbeitslos sind, besteht das Risiko der Langzeitarbeitslosigkeit. Darum stehen die Arbeitgeber in der Pflicht, die Älteren zu beschäftigen. Die Demografie wird sie dazu zwingen, uns fehlen in den nächsten Jahren eine halbe Million Fachkräfte. Ich bin für eine Differenzierung zwischen den Branchen. Sie im Pflegebereich sollten nicht bis 65 arbeiten müssen, ich als Bürogummi dagegen schon. Das müssen wir bei der nächsten Reform angehen.

Agostini: Die Pandemie zeigte die Hierarchien zwischen Homeoffice-Welt und systemrelevanten Berufen schonungslos: Jene im Homeoffice können sich doch mit 60 pensionieren lassen, weil sie es sich leisten können. All die systemrelevanten Berufe, oft im Tieflohnbereich, können das finanziell nicht. Ich bin nicht grundsätzlich gegen eine Harmonisierung des Rentenalters. Aber zuerst muss man die Rahmenbedingungen ändern.

Müller: Die AHV-Reform gibt uns genau diese zehn Jahre, um diese Rahmenbedingungen zu verbessern. Wenn wir Nein sagen, lösen wir weder das Gleichstellungsproblem noch die roten Zahlen der AHV.

Agostini: Die Gewerkschaft hat doch eine gute Lösung mit der Nationalbank-Initiative. Der Gewinn aus den Negativzinsen der Nationalbank soll in die AHV fliessen.

Müller: Auf die Nationalbank zu hoffen, ist doch keine nachhaltige Politik. Die haben nun einen Verlust von 99 Milliarden eingefahren. Das wichtigste Sozialwerk des Landes vom Gewinn der Nationalbank abhängig zu machen, ist mir viel zu gefährlich.

Agostini: Jedenfalls ist der Zeitpunkt der AHV-Reform falsch – jetzt mit der Inflation, der Mehrwertsteuer, die erhöht werden soll, den steigenden Energiepreisen und Krankenkassenprämien. Alles wird teurer, nur mein Lohn steigt nicht.

Müller: Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer um 0,4 Prozentpunkte ist ein vertretbarer Sanierungsbeitrag, den alle Generationen leisten müssen.

Agostini: Ich hoffe jedenfalls, dass ich nicht bis 65 arbeiten muss. Ich wäre gesundheitlich dazu gar nicht in der Lage.

Müller: Und ich hoffe, dass meine Generation überhaupt einmal AHV beziehen kann.

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