«Wir gelten schnell als vorwitzig»
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Autor über ADHS und Asperger:«Wir gelten schnell als vorwitzig»

Ein erwachsener Autist trifft seinen ehemaligen Lehrer
Jonny sagt Wolfi Danke

Jonny Billeter war als Kind schon anders. Autistisch. Mit ADHS. Ständig eckte er an. Nur ein Lehrer konnte mit ihm umgehen: Wolfi. Jahrzehnte später sprechen der pensionierte Primarlehrer und sein ehemaliger Schüler darüber, was damals half – und heute noch Sinn macht.
Publiziert: 06.04.2025 um 11:57 Uhr
Jonny Billeter und sein ehemaliger Lehrer Mark Wolfangel treffen sich in Gossau ZH – und machen einen Abstecher ins Schulzimmer, in dem Wolfangel unterrichtete. Billeter fiel wegen Autismus und ADHS auf.
Foto: Thomas Meier

Darum gehts

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Gossau ZH an einem Freitagnachmittag. Jonny Billeter (55) steht auf dem Pausenplatz, vor ihm das alte Schulgebäude, das wie eine flache Schuhschachtel daliegt. Er hebt einen Arm und zeigt auf ein Fenster im Erdgeschoss. Das Schulzimmer, in dem er als Fünft- und Sechstklässler sass. «Das Einzige, bei dem ich noch Erinnerungen habe», sagt er zu Mark Wolfangel (73), der neben ihm steht und ihn damals dort unterrichtete. «Bei allen anderen war ich ständig vor der Tür.» Wolfangel lächelt und guckt ungläubig. «Ehrlich jetzt?» Für Billeter eine überflüssige Frage. «Ich bin immer ehrlich.»

Jonny Billeter sagt die Wahrheit. Er kann nicht lügen. Etwas sagen, das nicht so ist, lässt sein Hirn fast nicht zu. Jonny Billeter hat eine hochfunktionale Ausprägung von Autismus – Asperger. Und: ADHS. Deshalb sind die beiden hier. Sie reisen zurück in das Damals. In die Zeit, in der Jonny ein Bub war und kämpfte. Egal, wo er hinkam: Er war anders. Er eckte an. Nur einer verstand ihn: der heute pensionierte Primarlehrer Wolfi, wie ihn die Schülerinnen und Schüler nannten. «Wolfi ist eine Legende», sagt Billeter mit warmer Stimme.

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Jahrzehnte waren Billeter und Wolfangel nicht mehr an ihrer alten Schule. Die Pulte, die Wandtafel wecken bei beiden Erinnerungen.
Foto: Thomas Meier

Die beiden wirken so vertraut, als wären sie lebenslange Freunde mit einigem Altersunterschied. Keine Spur davon, dass sie sich zwischendurch 40 Jahre nicht gesehen haben. Bis Jonny Billeter einen Herzinfarkt hatte. Das brachte ihn zum Nachdenken. «Ich wollte nicht sterben, ohne Wolfi Danke zu sagen», sagt er. Das tat er. Jetzt sehen sie sich wieder häufiger. Wolfangel hat Billeter bei dessen Projekt geholfen: der Ratgeber-Broschüre «Die Superkraft ADHS & Asperger», die vor kurzem herauskam. Weil er von Eltern und Lehrpersonen wisse, die wegen der Kinder verzweifelt seien, sagt Billeter. Er will ihnen durch Tipps als Betroffener helfen, die Kinder besser zu verstehen. Und hebt ihre Stärken hervor, in einer Welt, die oft nur ihre Schwächen sieht.

Die beiden verstehen sich so gut wie alte Freunde.
Foto: Thomas Meier

Ihr Hirn ist anders

Geschätzte fünf Prozent der Kinder sind von ADHS betroffen. Bei Autismus sind es ein bis drei Prozent. Nicht selten haben Betroffene beides. Das weiss Matthias Huber, Psychologe bei der Stiftung Kind und Autismus in Urdorf ZH. Er berät und behandelt seit fast 20 Jahren Menschen im Autismusspektrum.

Er kennt die Gemeinsamkeit: «Das Hirn funktioniert bei beiden anders.» ADHS-Kinder neigen dazu, rasch und impulsiv zu handeln, sie haben Schwierigkeiten mit der Konzentration bei für sie Uninteressantem und einen starken Bewegungsdrang. Anders manifestiert sich das autistische Gehirn. Er sagt: «Es denkt logisch und sachlich.» Autistische Menschen können Gesten oder Mimik anderer schwer deuten. Genauso schlecht können sie zwischen den Zeilen lesen und Sarkasmus verstehen. Zudem ist ihre Wahrnehmung von Dingen in der Welt anders. Ihnen stechen erst Details ins Auge. Manchmal sehen sie deshalb das Ganze nicht. Bei einem Glas Wasser, das vor ihnen steht, registrieren sie vielleicht erst die Luftblasen im Mineralwasser, die Rillen im Glas, den Kratzer hier, den Sprung dort. Viel später dann das Objekt als Ganzes. Deshalb reagieren manche langsamer, ihr Hirn muss viel mehr arbeiten, sie sind schneller überfordert. Trotzdem, sagt Matthias Huber: «Viele autistische Kinder fallen lange nicht auf, weil sie sich oberflächlich gesehen anpassen.»

Jonny Billeter als siebenjähriges Kind.
Foto: zVg

Ein anderer Grund ist ein trügerisches Bild, das man von Autisten hat: in sich gekehrte Menschen, die anderen nicht in die Augen schauen können. Jonny Billeter zeigt mit beiden Händen auf sich. «Schau mal mich an!», ruft er. «Das bin ich nicht.» Und blickt der Journalistin in die Augen. Seine autistischen Merkmale sieht man ihm nicht an. Zum Beispiel die Vorliebe für Struktur. Rituale. Regelmässigkeiten. Er ist seit fast 30 Jahren verheiratet, hat eine Tochter, ist seit Teenagerjahren mit den gleichen Leuten befreundet und lebt seit Jahrzehnten in Mönchaltorf ZH. Zu Hause steigt er jeden Tag um exakt 19.30 Uhr in die Badewanne. Dort kann er entspannen. Sonst steht er unter Strom. Im Gespräch springt er von Thema zu Thema, beendet Sätze nicht, weil er im Kopf schon wieder weiter ist. Billeter fiel in der Schule früh auf. Er stach heraus. Er sagt: «Ich machte immer den Kopfstand, wenn ich mich nicht verstanden fühlte.» Mark Wolfangel lächelt und sagt: «Du warst im Turnen der beste Kopfständler von allen.»

Seine Klassengschpänli fanden ihn doof

Die beiden sitzen nun im Lehrerzimmer auf einem Sofa. Wolfangel zurückgelehnt, mit übereinandergeschlagenen Beinen, Billeter nach vorne gebeugt. Der ehemalige Lehrer erinnert sich. Klein sei Jonny gewesen, blond, quirlig und einnehmend. «Einer zum Gernhaben.» ADHS, Autismus – Diagnosen wie diese waren unbekannt. Auffällige Kinder waren «schräge Vögel», im ungünstigen Fall: Störenfriede, die die Kinder im Turnen zuletzt ins Team wählten. Anders für Mark Wolfangel. Genau sie mochte er besonders. «Sie brachten Leben ins Klassenzimmer.»

Mark Wolfangel ruht in sich.
Foto: Thomas Meier

Kam dem kleinen Jonny eine Frage in den Sinn, und das geschah oft genug, streckte er nicht auf. Er rief dazwischen. Auch wenn Wolfangel ausnahmsweise keine Hausaufgaben aufgab. Unlogisch, dachte der Bub. Sofort fragte er, ob der Lehrer diese vergessen habe – seine Klassengschpänli verdrehten die Augen. Billeter sagt: «Alle fanden mich einen ohnmächtigen Siech.» Das passiert ihm heute noch. Fällt ihm etwas auf, eine Absurdität, ein Widerspruch – besonders ein Widerspruch! –, hat er den Drang, es zu sagen. Es muss raus. Auf dem Weg ins Lehrerzimmer sind wir im Schulhaus an einer Glasfront mit gelben Klebezetteln vorbeigekommen, auf einem steht geschrieben: «Bitte stehen lassen.» Billeter hat es sofort registriert. Er sagt in empörtem Ton: «So etwas ist doch lächerlich.»

Er übte mit ihnen Grüezisagen

Was war nun das Besondere an Wolfis Unterricht?

Wolfangel faltet die Hände über dem Knie und sagt: «Mit ‹Aspies› muss man verhandeln.» Das tat er intuitiv, ohne Fachwissen. Dem kleinen Jonny gab er das Gefühl, dass das, was dieser sagen will, inhaltlich nicht dumm oder nervig ist – sondern interessant. Und schlug vor, dass dieser während der Schulstunde alles auf seinem Blöckli notiert, anstatt es sofort zu sagen. In der Pause besprachen sie die Notizen. Bei einem anderen autistischen Kind, das ausflippte, wenn es überfordert war, machte er einen anderen Deal: Immer wenn es spürte, dass es im Bauch vor Wut rumorte, sollte es Wolfangel ein Signal geben – zuzwinkern. Dann das Zimmer verlassen, dreimal ums Schulhaus rennen und wiederkommen. Mit anderen betroffenen Kindern übte er nach Schulschluss Verhaltensweisen im Umgang mit den Gschpänli ein. Die Art, wie man morgens das Schulzimmer betritt, Grüezi zu sagen. Er sagt: «Ein Sondersetting im Kleinen.»

Rumblödeln im Klassenzimmer, wo Wolfi Jonny damals unterrichtete.
Foto: Thomas Meier

Jonny Billeter schaut nun Mark Wolfangel an und sagt: «Du hast mich als einziger Lehrer ernst genommen.» Nicht bestraft, nicht gegängelt. Null Repression. «Darauf reagiere ich grausam allergisch», sagt er. Da könne es eskalieren. Wolfangel nickt und lächelt.

Nun sitzen sie nebeneinander. So viele Jahre später. Und Jonny Billeter hat es geschafft. Er ist Vater, Ehemann, guter Freund und hat sich erfolgreich mit einem eigenen Unternehmen im Bereich Digitalisierung etabliert. Weil ein Mark Wolfangel an ihn geglaubt hat. Weil Billeter selbst ein Kämpfer ist. Er sagt: «Ich bin unkaputtbar.» Und bleibt dabei, als man ihn verwundert auf den Herzinfarkt beim Golfen und auf sein Burnout vor einigen Jahren hinweist. Sein Selbstbild macht Sinn. Es schöpft sich aus seiner Erfahrung: Egal, wie oft man ihn ablehnt, wie oft er scheitert – Jonny Billeter steht immer wieder auf.

Jonny Billeter, «Die Superkraft ADHS & Asperger. Der etwas andere Ratgeber für Eltern, Lehrpersonen und die Gesellschaft», Kirja-Verlag, 15 Franken. 

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