«Haben Sie einen Moment Zeit, um mit uns über Ihren Glauben zu sprechen?» Blick versuchte es gestern Nachmittag vor dem Letzigrund-Stadion auf die gleiche Tour wie die Zeugen Jehovas an der Haustüre.
Doch der Erfolg blieb aus. «Keine Zeit» war die ernüchternde Antwort der vielen Gläubigen. Vor der Kamera schon gar nicht, sagte eine ältere Frau aus der chinesischen Delegation und fügte lachend an: «Sonst gehen die ‹Ältesten› noch auf mich los!» Damit meint sie Geistliche innerhalb der Zeugen Jehovas.
Die Zeugen Jehovas treffen sich an diesem Wochenende für einen Mega-Kongress mitten in Zürich. Das Letzigrund-Stadion steht ihnen dafür zur Verfügung. 20'000 Besucherinnen und Besucher erwartet die religiöse Gemeinschaft bis morgen Sonntag.
Vor Ort zeigt sich ein friedliches Bild. Die Männer tragen vornehmlich beiges oder graues Beinkleid und fast ausschliesslich weisse Hemden, wahlweise mit Krawatte. Den Frauen sind in puncto Farben kaum Grenzen gesetzt. «Zurückhaltend muss es aber sein. Auf keinen Fall sexy», sagt eine gläubige Frau vor den Toren des Stadions.
Keine Feiertage, keine Geburtstage
Dieser Kongress gestern läutete bei den Zeugen Jehovas so etwas Ähnliches wie einen Feiertag ein – oder was dem am nächsten kommt. Denn die Gemeinschaft feiert weder Ostern noch Weihnachten noch Auffahrt. Geburtstage haben bei ihnen keine Bedeutung.
Die Zeugen Jehovas sind eine tiefgläubige Gemeinschaft, die auf der ganzen Welt Anhänger hat. In der Schweiz schätzt man ihren Anteil auf etwa 20'000 Menschen. Gesamthaft gibt es auf der Welt über achteinhalb Millionen Menschen, die Gott Jehova und seinem Sohn Jesus huldigen. Die Glaubensgemeinschaft gilt als überaus bibeltreu. Was in der Bibel steht, ist wahr – wörtlich. «Wir Zeugen Jehovas sind praktizierende Christen», sagt Mediensprecher Dominic von Niederhäusern (40). Sie glauben daran, dass der Untergang der Welt, auch Armageddon genannt, kurz bevorstehe und nur diejenigen gerettet würden, die sich Jehova anvertraut hätten. Satan, das Böse, lauere überall, nur die praktizierenden Zeugen sind vor ihm sicher.
Langweiliger Mega-Jesus-Event im Letzigrund
Für den Mega-Event im Letzigrund arbeiten an die 5000 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wo sonst Fussball gespielt wird oder Taylor Swift singt, wurden auf drei Seiten des Fussballplatzes grosse Bühnen errichtet, auf denen ständig wechselnde Redner referieren.
Arbeit, Ernährung, Familienleben, alles wird von der Bühne aus in einer Art biblischem Frontalunterricht in den gefüllten Letzigrund hinaus proklamiert. Drei Bühnen deshalb, weil es im Stadion eine italienische, eine deutsche und eine englische Sektion gibt. Für Aussenstehende ist das Gezeigte faszinierend und befremdlich – sogar langweilig.
«Es sind eigentlich Predigten», gibt Dominic von Niederhäusern zu und nährt damit die Vermutung des Reporters, dass es sich hier einfach um einen inszenierten Gottesdienst an einem speziellen Ort handeln könnte. Blick darf sich im Stadion umsehen, allerdings ständig unter Aufsicht. Auf eigene Faust Leute ansprechen und um ein Interview bitten, ist verboten.
Die netten Zeugen vermögen die Kritik nicht wegzulächeln
Die Zeugen Jehovas wissen, dass sie bei Aussenstehenden nicht auf Anhieb einen Sympathiepreis abholen können. Zu zahlreich sind die Berichte von sexuellem Missbrauch von Kindern, Aussteigern, die nach ihrem Entschluss mit Ächtung bestraft und ausgegrenzt wurden. Zu heftig ihre Ablehnung von Bluttransfusionen oder ihr mehr als kritischer Umgang mit Sexualität, insbesondere der gleichgeschlechtlichen.
Zu den fragwürdigen Regeln bei den Zeugen Jehovas spricht Blick mit Regina Spiess (53). Die Sektenexpertin arbeitet für den Verein JZ Help, der für Opfer der Zeugen Jehovas Hilfe anbietet. Für sie ist klar: «Sie zerstören Familien!» Als eines von vielen Beispielen nennt sie Regelverstösse innerhalb der Gemeinschaft: «Wenn das passiert, wird er oder sie von einem Komitee befragt.»
Rumknutschen verboten
Bei Jugendlichen seien das oft sexuelle «Fehltritte», sagt Spiess: «Weil sie rumgeknutscht haben oder mit ihrer ersten Liebe zusammen waren.» Von diesem Komitee, bestehend aus drei Männern, würden die Jugendlichen dann bis ins letzte Detail befragt. «Viele beschreiben diese Befragung als traumatisierend, weil es einem sexuellen Übergriff nahekommt.»
Wie bei vielen Religionen gilt auch bei den Zeugen Jehovas: Ihr Glaube ist so stark und so tief verwurzelt, dass weltliche Anschauungen hier wenig Beachtung finden.