Nach Taylor Swift kommt das nächste US-Phänomen in den Letzigrund. Von Freitag bis Sonntag besetzen die Zeugen Jehovas die Zürcher Sportanlage. Die Religionsgemeinschaft erwartet an ihrem Sonderkongress rund 20’000 Besucherinnen und Besucher aus der ganzen Welt. Sie predigen, referieren, singen – und wollen so gross die Werbetrommel rühren.
Zürich vermietet der Religionsgemeinschaft den Letzigrund bereitwillig. Aus «nicht diskriminierender Gleichbehandlung», wie die Stadt sagt. Die Zeugen Jehovas zeigen sich darüber erfreut. «Wir schätzen die gute Zusammenarbeit mit den Behörden und dem Stadionmanagement», sagt Dominic von Niederhäusern, Sprecher der Schweizer Zeugen Jehovas.
Umstritten, aber in den Nachbarländern anerkannt
Für Expertinnen und Experten ist jedoch unverständlich, dass die Stadt den Kongress bewilligt hat. «Die Zeugen Jehovas sprechen ihren Mitgliedern fundamentale Menschenrechte ab», sagt Regina Spiess (53) des Vereins JZ Help.
Lange hatte die Religionsgemeinschaft das Image einer strenggläubigen, aber harmlosen Freikirche. Mit Erfolg: In Deutschland gelten die Zeugen Jehovas seit 2017 in allen Bundesländern als Körperschaft des öffentlichen Rechts. In Österreich sind sie sogar eine staatlich anerkannte Religion.
Dennoch bröckelt die Fassade seit der Jahrtausendwende. Immer mehr ehemalige Mitglieder treten an die Öffentlichkeit und offenbaren psychischen und teilweise auch körperlichen Missbrauch. Wie Zahlen aus den USA zeigen, verlassen zwei Drittel der in der Gemeinschaft aufgewachsenen Menschen das Schiff. «Die Ausgestiegenen sind eine starke Stimme gegen das Bild einer friedlichen Religion», sagt Spiess.
Von klein auf beschäftigen sich die Mitglieder mit der Endzeit
Auch für Christian Rossi (51), Religions- und Bibelwissenschaftler von Infosekta, ist es fragwürdig, dass die Stadt den Zeugen Jehovas den roten Teppich ausrollt. Seine Fachstelle bietet ehemaligen Zeugen Jehovas in der Deutschschweiz eine Selbsthilfegruppe an.
Rossi war selbst Mitglied. Er wurde als Jugendlicher ein Zeuge. «Man wird mit Liebe und Aufmerksamkeit überhäuft», sagt er. «Als junger Mann ist das etwas Schönes.» Und dass die Gemeinschaft in der Nazi-Zeit zu Verfolgten wurden, beeindruckte ihn: «Sie waren bereit, für ihren Glauben ihr Leben zu opfern.» Rossis Eltern gehörten nie der Gemeinschaft an, er distanzierte sich während der Mitgliedschaft von ihnen. Nach und nach habe er gemerkt, dass er von den Zeugen Jehovas angelogen und manipuliert wurde. «Ich wurde schwer depressiv, fühlte mich einsam», sagt er. Ein Jahrzehnt nach seinem Eintritt verliess er die Kirche. Die Beziehung zu seinen Eltern normalisierte sich wieder.
Weltweit gehören der Kirche, die Ende des 19. Jahrhunderts in den USA gegründet wurde, mehr als acht Millionen Menschen an. In der Schweiz sind es laut eigenen Angaben rund 20’000 Mitglieder. Verbunden sind sie durch die biblische Endzeit, an der Gott zur Erde hinabsteigen und die Ungläubigen bestrafen werde. Auch Kriege und der Klimawandel werden dabei als Anzeichen gedeutet. «Gerettet bin ich nur, wenn ich Teil der Organisation bin», sagt Spiess.
So würden Kinder bereits von klein an mit dem Armageddon konfrontiert. Durch blutige Bilder und Filme, Lieder, Bibelkurse sowie die hauseigene Zeitung «Der Wachtturm». Inhalte und Regelwerk werden durch eine sogenannte «leitende Körperschaft» aus dem Hauptsitz in New York (USA) gesteuert. Zweigstellen, die durch sogenannte «Älteste» geführt werden, setzen die Vorgaben auf der ganzen Welt um.
Bei den Zeugen regiert das Patriarchat
Die Rollenbilder sind dabei klar verteilt: Männer führen, Frauen folgen. Sex vor der Ehe ist verpönt. Scheidungen sind nur möglich, wenn eine Person die andere betrügt. Und gleichgeschlechtliche Beziehungen sind streng untersagt. «Die Zeugen Jehovas sind homophob und transphob», sagt Rossi.
Als Zeugen Jehovas aufgewachsene Jugendliche kommen dadurch in ihren Entwicklungsjahren oftmals in einen Konflikt. «Für sie ist es furchtbar», sagt Spiess. «Sie fühlen sich verraten. Man macht alles mit, befolgt alle Regeln und lässt sich häufig trotz eigener Bedenken sogar taufen. Und dann wird man schlimmstenfalls wegen einer Liebesbeziehung oder der falschen Sexualität ausgeschlossen und von der Familie geächtet.» Diese Ächtung sei auch der grosse Unterschied zu anderen Freikirchen: «Wenn ich dort aussteige, um in eine zu wechseln, die ich sympathischer finde, leiden meistens darunter weder Familie noch Freundeskreis.»
Dazu kommen zahlreiche Berichte über die Vertuschung von sexuellem Missbrauch innerhalb der Gemeinschaft. 2015 legte eine australische Untersuchung offen, dass innerhalb der Organisation seit 1950 weltweit 1006 Mitglieder der Zeugen Jehovas beschuldigt wurden, mutmasslich 1800 Kinder sexuell missbraucht zu haben. Keiner der Täter wurde durch die Organisation angezeigt.
Gesellschaftlicher Druck führt zu lockereren Regeln
Eine grosse Hürde liegt dabei in der sogenannten Zweizeugenregel. So werden Missbräuche nur anerkannt, wenn zwei Personen den Täter dabei beobachten. «Die Zeugen Jehovas behaupten, dass sie sich so an die Bibel halten», sagt Rossi. Im Alten Testament stellt das mosaische Gesetz Regeln im Falle von Vergewaltigung auf. «Die Zeugen Jehovas wenden diese Passage auch auf sexuellen Kindesmissbrauch an.»
Mittlerweile sei die Regel jedoch abgeschwächt worden: So gelte auch ein zweites Opfer desselben Täters als zweite Zeugin oder zweiter Zeuge. «Aufgrund des gesellschaftlichen Drucks von aussen werden die Regeln teilweise angepasst.»
Die Religionsgemeinschaft selbst bedauert laut Sprecher von Niederhäusern die Vorwürfe und Äusserungen von ehemaligen Zeugen Jehovas sehr. Denn gemäss ihm hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrecht die Vorwürfe widerlegt und wiederholt bestätigt, dass es sich bei Jehovas Zeugen um eine «bekannte Religion mit völlig friedlichen Aktivitäten» handelt. Auf welches Urteil er sich bezieht, teilt von Niederhäusern nicht mit.