Auf einen Blick
Rund drei Millionen Pilgerinnen und Pilger reisen jährlich nach Lourdes, eine Stadt mit knapp 14'000 Einwohnern und 27'000 Hotelbetten. Im Wallfahrtsort im Südwesten Frankreichs nahe der spanischen Grenze sollen in den letzten 150 Jahren, seit einer unheilbar Kranken Maria erschien und sie heilte, weitere 69 Wunder geschehen sein: Gelähmte konnten wieder gehen, Erblindete bekamen das Augenlicht zurück, und Krebskranke wurden wieder gesund. Diese Überlieferungen, das Lourdes-Wasser und der Besuch der Grotte ziehen Gläubige aus der ganzen Welt an.
Dutzende von ihnen schildern, an der heiligen Stätte von schweren Krankheiten geheilt worden zu sein. Solcher Dossiers nimmt sich ein gut 30-köpfiges internationales Komitee an, in dem Ärzte und Wissenschaftler aus verschiedenen Fachgebieten mitwirken. Zu ihnen gehört seit zehn Jahren Cornel Sieber (65), ärztlicher Direktor am Kantonsspital Winterthur und renommierter Altersmediziner mit Lehrstuhl an der Universität Erlangen-Nürnberg in Deutschland.
Zwischen Wissenschaft und Spiritualität
Das Lourdes-Komitee trifft sich einmal jährlich, jeweils im November. Ihm obliegt es, die scheinbar wundersamen Heilungen wissenschaftlich zu untersuchen, das Patientendossier zu studieren und die Genesungen zu analysieren. «Die Kausalität ist oft nicht ersichtlich, sodass spirituelle Begründungen herangezogen werden», sagt Sieber. Meist gebe es medizinische Erklärungen, weshalb sich etwa Tumore zurückbildeten. Das könne mit früheren Behandlungen, Ernährung, veränderten Lebensgewohnheiten oder auch dem Energiehaushalt zusammenhängen.
Der Wissenschaftler scheut den Begriff des Wunders. Doch ihn fasziniere es, Unerklärliches zu erforschen, diesen Mix aus Medizin und Spiritualität zu erleben. Sieber stellt fest: «Es gibt Heilungen, für die es keine Erklärung gibt.» Wie auch immer man das auslegen wolle, ob mit Glauben oder anderswie. Er weist darauf hin, dass etwa auch Krebsspezialisten ab und zu nicht wüssten, warum sich ein Tumor zurückbilde und jemand, der als unheilbar krank gelte, gesund werde. «Da wird kein göttliches Wunder erwogen.»
Klare Kriterien
Das medizinische Komitee arbeitet nach strikten Kriterien. Es nimmt sich nur Fällen an, in denen es um eine schwerwiegende Krankheit mit ungünstiger Prognose geht. Die Diagnose muss bekannt und in der Medizin aufgelistet sein, nicht objektivierbare psychische Leiden beispielsweise untersuchen die Fachleute nicht. Zudem muss die Heilung nachhaltig und ein Rückfall ausgeschlossen sein.
Seit 1968 hat das Komitee 7000 Fälle behandelt, fast immer fand es eine Erklärung für die scheinbar unerklärlichen Heilungen. Oder die Mitglieder waren sich nicht einig, weshalb der Patient genesen war. Die Dossiers werden verteilt, der damit Betraute studiert frühere Arztberichte, ordnet neue Untersuchungen an und legt seine Schlussfolgerungen – oft nach jahrelangen Abklärungen – der Kommission vor.
Seltene Wunder
Kommt diese mit Zweidrittelmehrheit zum Schluss, die Heilung sei medizinisch nicht zu erklären, kann die katholische Kirche von einem Wunder sprechen. Das Komitee werde aber keineswegs dazu gedrängt, solche publizitätswirksamen Heilungen hervorzubringen, betont Sieber: «Wir sind völlig unabhängig.»
Die bisher letzte von 70 Wunderheilungen in Lourdes hat die Kirche 2018 anerkannt. Eine gelähmte, an den Rollstuhl gebundene Ordensfrau war demnach nach einer Pilgerreise nach Lourdes geheilt worden. Im Jahr 2008 konnte die damals 69-Jährige laut den medizinischen Akten wenige Tage nach ihrer Rückkehr plötzlich wieder gehen.