An Weihnachten dreht sich alles um Jesus. Doch wer war eigentlich die Frau, die ihn auf die Welt brachte? Maria von Nazareth ist heute nebst dem Sohn Gottes die populärste Figur des Christentums – doch über ihre wahre Geschichte ist wenig bekannt. Wie konnte aus einer Teenager-Mutter ein globaler Superstar werden?
Die echte Maria von Nazareth
Die Muttergottes stammt aus einem sozialen Brennpunkt. Nazareth war um das Jahr 0 ein mausarmes, jüdisches Dorf in der römischen Provinz Galiläa. Ein Grossteil der Bewohner arbeitete als Tagelöhner in der nahen, prosperierenden Stadt Sepphoris. Die Menschen wohnten als Sippen in Wohnhöhlen. Das Umfeld Marias gilt als historisch relativ gut erforscht. Doch was ist mit ihr selbst? Gab es tatsächlich eine Maria von Nazareth? Oder ist sie einfach eine gute Geschichte?
Gregor Emmenegger (51) ist Professor für Alte Kirchengeschichte an der Universität Freiburg. Er sagt: «Aus historischer Sicht ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass Maria existierte.» Mehr als Wahrscheinlichkeiten kann die historische Forschung in der Antike kaum bieten. Absolute Beweise sind in dieser Epoche selten. Doch die historischen Indizien sind eindrücklich genug und verändern das Bild, das wir heute von Maria haben. «Wir müssen davon ausgehen, dass Maria nicht viel mehr als zwölf Jahre alt war, als sie Jesus gebar.» Heute wäre Maria also ein Fall für die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) – in der vorchristlichen Zeit war es dagegen normal, dass Sippen ihre weiblichen Nachfahren verheirateten, sobald sie geschlechtsreif waren. «Der Körper der Frau gehörte damals den Familien», sagt Emmenegger. Marias Mann Josef war wohl um ein paar Jahre älter, wie damals ebenfalls üblich. Die Namen Maria und Josef waren in der Region weit verbreitet – auch das ist plausibel. Doch das ändert nichts daran, dass die historische Quellenlage dünn ist. Selbst in der Bibel sind Marias Spuren dürftig: Sie taucht nur in 142 der insgesamt 7957 Verse des Neuen Testaments auf, vor allem im Lukas- und Matthäusevangelium. Sie spielt eine kleine Nebenrolle. Emmenegger sagt: «Wann immer Maria auftaucht, geht es eigentlich um Jesus.» Zusammenfassend kann man sagen: Maria gab es wahrscheinlich. Eine Himmelskönigin war sie nicht. Sondern einfach ein armes, jüdisches Mädchen und eine Teenager-Mutter.
Das Problem mit der Jungfräulichkeit
Maria kam ohne Mann zur Empfängnis. So steht es in der Bibel. Heute gilt Maria gerade unter konservativen Christen als Symbol für Keuschheit und Enthaltsamkeit. Doch woher kommt dieser Kult um die Jungfräulichkeit? Er war nicht von Anfang an da, sagt Gregor Emmenegger: «In der Zeit von Jesus war eine Jungfrau einfach eine unverheiratete Frau.» Die Geburtsgeschichte von Jesus orientiert sich ganz stark an einer in der Zeit hochpopulären Erzählung über Kaiser Augustus (63 v. Chr.–14 n. Chr.). Dessen Vater soll, so die Legende, der römische Gott Apollo gewesen sein – die Mutter, die römische Senatorentochter Atia (85–43 v. Chr.). Emmenegger sagt: «Die Geburtsgeschichte Jesu ist ein sogenanntes Gegenevangelium zu Kaiser Augustus. Viele Punkte aus der Biografie des Kaisers wurden aufgenommen. Nur wird Jesus nicht in Rom, sondern in einem Stall geboren.» Die Jungfräulichkeit von Maria war damals also eher ein Indiz für die Göttlichkeit von Jesus. «Augustus’ Legende kannten alle. Also übernahmen sie die Christen, um nach aussen zu kommunizieren, wer Jesus ist: Gottes Sohn», sagt Emmenegger. Im multireligiösen Nahen Osten kämpften verschiedene Religionen um Anhänger.
Erst im 4. Jahrhundert beginnt sich das Bild der Jungfräulichkeit zu verändern. Bis dahin war unter Christen unbestritten, dass Maria nach Jesus noch weitere Kinder gebar. Josef war also Patchwork-Papa. Doch dann werden asketische Formen des Christentums populär, und aus der Mutter Maria wird eine Heilige der Enthaltsamkeit. Die Brüder und Schwestern von Jesus macht man zu Cousins und Cousinen. Ab da wirds kompliziert. 451 nach Christus hält die Kirche im Konzil von Chalcedon fest: Jesus ist ganz Gott und ganz Mensch. Aber wie passt da die Unbefleckte Empfängnis rein? Kann man ganz Mensch sein, wenn man durch eine Samenspende Gottes entstand? Die Kirche tastet den Mythos der Jungfräulichkeit nicht an, auch weil Maria im einfachen Volk populär ist – und als Muttergottes immer mehr Richtung Himmel entrückt. Sie wird zusehends zur Himmelskönigin. Die Reformatoren brechen damit brachial. Emmenegger sagt: «Die katholische Kirche setzt danach noch stärker auf den Marienkult, um sich von den Protestanten abzugrenzen.» Und so wird Maria gemäss Emmenegger beinahe zur Miterlöserin erklärt – und damit zu einem vierten Teil der Dreifaltigkeit. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes … und der Muttergottes. Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bekommt sie ein eigenes Fach in der katholischen Theologie: die Mariologie. Papst Johannes Paul II. (1920–2005) war ein grosser Marienverehrer. In der Schweiz gilt Lugano als Zentrum der Mariologie. Der deutsche Professor Manfred Hauke widmet sich an der Theologischen Fakultät der Universität Lugano schwerpunktmässig der Mariologie – er kämpft unter anderem gegen das Frauenpriestertum und die Ehe für alle.
Maria Superstar!
«Maria ist der erste Medienstar der Kirche!», sagt Natalie Fritz (44), Religionswissenschaftlerin und Medienethikdozentin an der Fachhochschule Graubünden, die sich mit der kulturwissenschaftlichen Bedeutung der Marien-Figur auseinandersetzt. Was sie damit meint: In der Bibel ist die Rolle der Muttergottes marginal, aber als bildliche Darstellung wird sie spätestens im Mittelalter super populär. Die Menschen tragen Heiligenbilder mit sich herum, in Kirchen tauchen Mariendarstellungen auf. «Maria ist Mensch und Mutter. Damit ist sie für die Gläubigen viel nahbarer als hochkomplexe theologische Konzepte wie die Dreifaltigkeit.»
Maria wird zu einer Heldin des Volksglaubens. Bis heute. «Zu Maria beten die Menschen, wenn sie etwas möchten», sagt Fritz. Auch in der Schweiz gibt es mit der Schwarzen Madonna von Einsiedeln aus dem 15. Jahrhundert und dem Kloster Mariastein aus dem späten 14. Jahrhundert zwei uralte Orte der Marienverehrung, die bis heute Menschenmassen anziehen. Und zwar über die Religionsgrenzen hinaus. So pilgern auch hinduistische Tamilen an die beiden Orte. In Mariastein musste der Zugang sogar limitiert werden. «Maria ist eine globale Figur», sagt Natalie Fritz. Sie spielte auch in der Christianisierung Lateinamerikas und Afrikas eine grosse Rolle. Wieso? «Weil es in fast allen Kulturen Anknüpfungspunkte an lokale Gottheiten gibt. So hat man zum Beispiel die indigene Mutter-Gottheit Pachamama mit Aspekten der Maria fusioniert», sagt Fritz. Selbst heute ist Maria noch im Einsatz, wenn es um die Bekehrung geht. Zum Beispiel in China, wo die Figur der Maria laut Fritz unter Gläubigen äusserst populär ist.
Königin der Popkultur
Maria ist im 21. Jahrhundert überall – auch in der Popkultur. Der vorläufig letzte Superstar, der sich als Marienfigur inszenierte, war Beyoncé. 2017 zeigte sie sich als Mischung aus christlicher Muttergottes und Oshun, einer Fruchtbarkeitsgöttin der westafrikanischen Yoruba-Kultur. In einer Performance fragte sie: «Erinnerst du dich daran, als du geboren wurdest? (…) Bist du dankbar für den Schoss, der dafür aufgesprengt wurde?» Keusch ist an dieser Madonna des 21. Jahrhunderts wenig. Religionswissenschaftlerin Natalie Fritz sagt: «Am Beispiel Beyoncés lässt sich zeigen, wie das Marienbild Kulturen überschreitet und Zeiten überwindet – und die Bedeutung sich anpassen kann.» Im 20. Jahrhundert hat diese Entwicklung massgeblich eine Sängerin mitgeprägt, die die Muttergottes sogar im Namen trägt: Madonna, mit vollem Namen Madonna Louise Ciccone. Streng katholisch erzogen, begann sie als Künstlerin früh mit der Marien-Ikonografie zu spielen. Der Clip zum Song «Like a Prayer» löste einen Skandal aus, weil sich Madonna vor brennenden Kreuzen und mit Wundmalen an den Händen zeigte, die an Jesus erinnerten. Zudem machte sie sich an eine dunkelhäutige Heiligenfigur heran. Ihre erste Tochter heisst Lourdes, wie der Marienwallfahrtsort in Frankreich. Madonna macht die Muttergottes zu einer starken Frau mit einer unbändigen Sexualität. Das hat Folgen: Vertreter Roms fordern die Exkommunikation Madonnas. Beyoncé und Madonna zeigen auch, dass die Muttergottes grösser ist als die Religion. Klar ist für Kirchenhistoriker Emmenegger: «Maria war immer eine Projektionsfläche für die Fragen: Was heisst es, Frau zu sein? Was bedeutet Weiblichkeit?»
Maria 2.0 vs. Miss Perfect
Im Mai 2019 hing an der Uni-Kirche in Freiburg im Breisgau (D) ein Poster. Darauf war eine Maria abgebildet, deren Umhang so fiel, dass ihre Form an eine Vulva erinnerte. Im Mai 2023 brachte «Vatican News», das Nachrichtenportal des Vatikans, eine CD heraus mit Meditationen von Papst Johannes Paul II., die sich einzig und allein Maria widmeten. An diesen beiden Ereignissen zeigt sich, wie Maria heute in der Kirche von absolut gegensätzlichen Strömungen idealisiert wird – für die eigene Sache. Die an eine Vulva erinnernde Maria war eine Provokation aus dem Umfeld einer progressiven Frauenbewegung in der katholischen Kirche, die sich Maria 2.0 nennt, und auch in der Schweiz Anhängerinnen hat. Die Initiantinnen sorgen immer wieder mit Aktionen für Aufmerksamkeit. Sie wollen das Bild der dienenden, schweigenden Maria löschen und der Muttergottes ihre Weiblichkeit zurückgeben – und als Argument für die Gleichstellung der Frauen in der katholischen Kirche nutzen. Unter anderem hängten Aktivistinnen Thesen an Kirchentüren – auch in der Schweiz. Die erste lautet: «In unserer Kirche haben alle Menschen Zugang zu allen Ämtern.»
Progressive und Konservative identifizieren sich mit der Figur Muttergottes. Alle wollen Maria für sich.