SonntagsBlick: Herr Pfarrer, glauben Sie an Gott?
Josef Hochstrasser: Ich hoffe, dass es Gott gibt. Aber ich weiss es nicht.
Machen Weihnachten Sinn, wenn man nicht glaubt, sondern nur hofft?
Erst einmal muss man definieren, was Weihnachten ist. Wir machen daraus heute ein grosses Mischmasch.
Was ist denn falsch an der Art und Weise, wie wir Weihnachten feiern?
Es gibt viele Menschen, für die Weihnachten das Zusammenkommen der Familie ist. Das ist legitim. Aber eigentlich ist Weihnachten die Erinnerung an die Geburt Jesu, eines fantastischen Menschen, eines Humanisten. Und diese Erinnerung macht grossen Sinn, selbst wenn man nicht weiss, ob Gott existiert.
Sie haben schon für die Abschaffung von vielen christlichen Feiertagen plädiert. Möchten Sie auch Weihnachten abschaffen?
Ich möchte Weihnachten nicht abschaffen. Aber es würde mich schon interessieren, wer noch feiern würde, wenn er dafür einen freien Tag einziehen müsste. Weihnachten müsste Konsequenzen haben.
Welche denn?
Auf vier Ebenen setzte der Mann aus Nazareth Impulse. Er regt uns an zu erforschen, wer wir sind. Er will die Kommunikation mit allem Lebendigen – mit den Menschen, der Natur, den Tieren. Meine Güte, ist das aktuell! Dann fordert er den Austausch mit dem Feind, auch hochaktuell! Schauen Sie sich unsere Welt an: Alles ist getrennt und zerrissen.
Und viertens?
Die Kommunikation zu dem, was wir Gott nennen. Das ist etwas, was uns Menschen relativiert – und mir bewusst macht, dass wir vorläufig sind.
Sie sind in Ebikon LU aufgewachsen, wurden katholisch erzogen. Was sind Ihre Erinnerungen an Weihnachten?
Wir waren drei Buben und haben uns jeden Abend darum gebalgt, wer die Kerzen des Adventskranzes anzünden darf. Dann beteten wir einen Rosenkranz. Das hat meine Bubenseele erwärmt.
Wurden Sie deshalb Priester?
Unbedingt. Ich hatte die Gnade, dass ich all diese Dogmen und Lehrmeinungen, wie zum Beispiel Marias unbefleckte Empfängnis, gar nicht verstehen wollte. Mich faszinierten die katholischen Feste. Ich war Ministrant und stand um sechs Uhr morgens in der ungeheizten Kirche, sah meinen eigenen Atem und hörte lateinische Sätze und Formeln, die ich zwar nicht verstand. Sie hören, wie ich schwärme (lacht)?
Vermissen Sie das?
Ja, ich vermisse die Sinnlichkeit der katholischen Kirche. Die haben die Reformatoren zu sehr entfernt.
Sie waren Schweizergardist. Haben Sie damals schon an der katholischen Kirche gezweifelt?
Nein. Zum Kritiker wurde ich am ersten Tag als Pfarrer. Als ich den ersten Menschen begegnet bin, die wirkliche Fragen hatten.
Was für Fragen?
Darf ich abtreiben? Wie bringe ich meine Familie durch? Darf ich mich scheiden lassen? Da brachten mir alle erlernten Dogmen nichts mehr. Da musste ich mich entscheiden: Bringe ich nun Blabla oder schaue ich, wie ich konkret helfen kann?
Und die konkrete Hilfe stand im Widerspruch zur katholischen Lehre?
Ja, nach der katholischen Lehre hatte ich Brot in den Leib Christi zu verwandeln, Wein ins Blut Jesu. Eines Tages sagte ich mir: Was tue ich hier eigentlich? Ich begann das abzulehnen. Meine Zweifel begannen also nicht erst mit meiner Heirat.
Dazu hätte ich eine Frage: Wie lernt man eigentlich als ein dem Zölibat verpflichteter Priester eine Frau kennen?
Sie war Katechetin in der katholischen Gemeinde Bern-Bümpliz, und ich war ihr Chef (lacht).
Und dann?
Ich muss Ihnen ja hoffentlich nicht erklären, wie man sich verliebt! Ich bin bis heute unglaublich froh, dass mir das passiert ist. Zum Glück musste ich nicht lange mit dem Zölibat, dem Unterdrücken der Sexualität, umgehen. Gott sei Dank. Ich weiss nicht, wie das rausgekommen wäre.
Wie meinen Sie das?
Die einen beginnen zu trinken. Andere beginnen, sich für Buben zu interessieren.
Das Zölibat ist ein fundamentales Problem für die katholische Kirche?
Das Zölibat ist ein Problem. Doch man könnte es mit einem Federstrich lösen. Und sich dann den wesentlichen Problemen zuwenden. Und zwar: Was können die Kirchen tun, damit sich wieder viel mehr Menschen für sie interessieren?
Und was wäre das?
Als Pfarrer würde ich alles daran setzen, mich dafür zu interessieren, was die Menschen wirklich beschäftigt. Die Kirche muss wieder eine Bewegung werden. Wie die Klimabewegung oder Operation Libero.
Sie lösten einen Sturm der Entrüstung aus, als Sie Greta als Prophetin bezeichneten. Wieso soll sie das sein?
Die alttestamentarischen Propheten waren nicht Menschen, die etwas vorausgesagt haben wie Thomas Bucheli das Wetter. Es waren Menschen mit einem klaren Auge für Dinge, die in der Gesellschaft falsch laufen. Genau das sehe ich bei Greta Thunberg auch. Sie hält den Finger in die Wunde.
Ist die Klimabewegung eine Ersatzreligion?
Nicht Ersatzreligion. Die Klimabewegung ist ein Aspekt von Religion. Gehen wir zurück auf den 2000 Jahre alten Mythos der Schöpfungserzählung. Am Schluss soll Gott gesagt haben: Es ist alles sehr gut. Daraus lässt sich Folgendes ableiten: Gott hat etwas Grossartiges erschaffen, aber was wir daraus gemacht haben, ist ein ziemliches Chaos.
Bewegungen sind dem Zeitgeist unterworfen. Schafft sich die Kirche so nicht selber ab?
(Vehement) Nein, nein! Die Visionen Jesu haben dort eine Chance, wo sich Menschen entflammen lassen – und zusammenkommen.
In der Schweizer Bundesverfassung steht immer noch «Gott, der Allmächtige», und auf dem Bundeshaus thront ein Kreuz. Sie wollen beides entfernen. Wieso eigentlich?
Stellen Sie sich den Akt vor: Ein Kran montiert das Kreuz ab. Ich würde applaudieren. Man darf erstens nicht vergessen, dass das Kreuz ein Folterinstrument der alten Römer war. Aber noch wichtiger: Das Christentum ist eine Weltanschauung der Tat. Ich wünschte mir Christen, die jeden Tag christlich handeln, statt sich um ein Kreuz zu sorgen.
Aber da gehts doch um die Kultur des christlich-jüdisch geprägten Abendlandes!
Nochmals: Das Bild des Krans auf dem Bundesplatz würde wie ein Tsunami wirken und den Leuten bewusst machen, dass das Christentum gelebt werden muss. Nicht nur in den Symbolen verehrt.
Meine Journalisten-Kollegin Alexandra Fitz versuchte, diesen Advent wieder regelmässig in die Kirche zu gehen. Ihr Problem war: Es fehlte ihr die Zeit.
Die Kirchen stehen in einem brutalen Wettbewerb. Vor 60 Jahren gab es Fussball oder die Kirche, in meinem Fall beides. Aber wissen Sie was: Ich begrüsse diesen Wettbewerb. Dann müssen die Kirchen sich überlegen, was sie wirklich anzubieten haben. Wenn sie vor sich her schlafwandeln, ist es klar, dass niemand Zeit findet.
Bei uns boomen Yoga und Meditation. Wieso?
Das ist eine Suche, die ich verstehen kann. Aber in meiner Weltanschauung als Christ findet nicht jeder das Glück allein. Die Gemeinschaft ist wichtig. Solidarität ist zentral.
Sie sind eng mit Ottmar Hitzfeld befreundet. Wie haben Sie ihn eigentlich kennengelernt?
In der Kirche, als ich noch katholischer Priester war. Am Pfingstsonntag im Mai 1985 vor dem Cupfinal mit dem FC Aarau hörte er meine zünftige Maria-Predigt, in der ich sie als tolle, starke Frau schilderte. Nach der Predigt wartete er und sagte, dass er noch nie jemanden so über Maria reden gehört habe. Wir trafen uns dann zu einem Nachtessen, und das war der Beginn einer Freundschaft. Den Cupfinal gewann Aarau übrigens.
Welche Rolle spielt Religion in Ihrer Freundschaft?
Eine grosse.
Wer ist gläubiger?
(Lacht) Ich sage mal: unentschieden. Er ist auf eine gesunde Art katholisch geblieben. Als ich vor 34 Jahren des Amtes enthoben wurde, war er der Erste, der sich solidarisch zeigte und mir eine Tausendernote in den Briefkasten legte.
Heute predigen Sie noch etwa sechs Mal im Jahr in der reformierten Kirche in Steinhausen ZG. Wie hat die Gemeinde reagiert, als Sie bekannt gaben, dass Sie statt glauben vielmehr hoffen, dass es einen Gott gibt?
Es gab eine Initiative mit dem Ziel, mich zu entfernen. Die Kirchenpflege hatte eine Sitzung, in der es um meine Existenz in dieser Gemeinde ging. Sie wollten mich behalten, mit der wunderbaren Begründung, dass sie lieber einen Pfarrer hätten, der mit ihnen auf der Suche sei, als einen, der von der Kanzlei herab erzählt, wer dieser Gott ist.
Josef Hochstrasser (72) ist in Ebikon LU aufgewachsen, erhielt 1973 die katholische Priesterweihe, verliebte sich wenig später und heiratete. Von der katholischen Kirche erhielt er ein Berufsverbot. Später liess er sich zum reformierten Priester ordinieren und unterrichtete an der Kantonsschule Zug Religion. Hochstrasser ist zudem als Autor tätig und veröffentlichte unter anderem eine Biografie über den früheren Fussball-Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld.
Josef Hochstrasser (72) ist in Ebikon LU aufgewachsen, erhielt 1973 die katholische Priesterweihe, verliebte sich wenig später und heiratete. Von der katholischen Kirche erhielt er ein Berufsverbot. Später liess er sich zum reformierten Priester ordinieren und unterrichtete an der Kantonsschule Zug Religion. Hochstrasser ist zudem als Autor tätig und veröffentlichte unter anderem eine Biografie über den früheren Fussball-Nationaltrainer Ottmar Hitzfeld.