Donnerstagabend: Bei einem Gottesdienst der Zeugen Jehovas in Hamburg (D) fallen Schüsse. Sieben Menschen kommen bei einem Amoklauf ums Leben, mehrere werden schwer verletzt. Der Täter: Philipp F.* (†35), ein ehemaliges Mitglied der Sekte. Als die Polizei am Tatort eintrifft, richtet er sich selbst. Vor eineinhalb Jahren soll der Banker die Glaubensgemeinschaft verlassen haben. Offenbar nicht im Guten, wie die Hamburger Ermittlungsbehörden an einer Medienkonferenz mitteilen.
Was es bedeutet, von der Glaubensgemeinschaft ausgeschlossen zu werden, weiss Micha Barth (45). Er war zusammen mit seiner Frau Natalie (44) bis 2018 selber Mitglied der Sekte und kann sich vorstellen, dass der Ausstieg den Schützen zum Blutbad motiviert haben könnte. «Wenn man aussteigen will, muss man das den Ältesten der Versammlung kundtun. Danach muss man persönlich oder bei einem Telefonat noch einmal versichern, dass man den Ausstieg wirklich will», erklärt Barth. «Wenn das geschehen ist, wird der Versammlung der Entscheid verkündet, und dann weiss jedes Mitglied, was es zu tun gibt: Kontaktabbruch.»
«Kein Sex vor der Ehe und keine Bluttransfusionen»
Die Zeugen Jehovas würden das soziale Umfeld oft und gerne als Druckmittel verwenden. Zweimal pro Woche würden Versammlungen stattfinden, bei denen die Mitglieder über ihre Rechte und Pflichten aufgeklärt werden. Dies geschehe etwa anhand von Lesungen aus dem «Wachtturm», der Zeitschrift der Religionsgemeinschaft. «Das ist ein ganz festgelegtes Programm. Im Anschluss ans Studium des ‹Wachtturms› findet auch immer noch eine Fragerunde statt, und es wird einem nochmals erklärt, was die Organisation als richtig und was als falsch einordnet», so der Aussteiger weiter.
Er selbst sei in die Sekte hineingeboren worden. «Bei den Zeugen Jehovas gibt es einen Gott, Jehova. Ihm direkt unterstellt ist die irdische Organisation, die von acht Menschen in New York verwaltet wird. Die sind direkt von Gott beeinflusst und legen die Lehren und Grundsätze fest», führt Barth aus. So richtig verstanden habe er das Ganze nie, aber: «Ich wollte meiner Mutter und Grossmutter keine Belastung sein, da mein Vater verunglückt ist – und deswegen bin ich einfach mitgelaufen.»
Soziale Isolation als Druckmittel
Über die strengen Regeln bei der Sekte kann er heute selbst nur noch den Kopf schütteln. «Beispielsweise kein Sex vor der Ehe und keine Bluttransfusionen – und zwar auch nicht, wenn einem der Tod droht oder es sich um Kinder handelt. Es ist auch nicht gern gesehen, wenn man studieren geht: Man sollte alle seine Zeit Gott widmen, und die Sekte sieht das Studium als Ablenkung an.» Frauen hätten ausserdem in der Gemeinschaft quasi keine Rechte, Entscheidungsträger seien die Männer.
Freundschaften ausserhalb der Sekte werden nicht geduldet: «Und wenn man sich dann zum Ausstieg entscheidet, wird man von der Sekte komplett ausgeschlossen und jegliche Kontakte – auch mit der Familie – sind tabu.» Dies werde von den Mitgliedern knallhart durchgezogen, erzählt er und gibt ein Beispiel: «Meine Frau hat bis heute keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, und auch als die Mutter letztes Jahr verstorben ist, gab es keine Kontaktaufnahme.»
Totale soziale Isolation
Die Krux an der Sache: «Wenn man in die Sekte hineingeboren wurde und nie Freundschaften ausserhalb hatte, fällt es einem auch schwer, neue soziale Kontakte aufzubauen.» Man lebe sozial völlig isoliert. Und genau das führe dazu, dass viele Aussteiger aus Einsamkeit und Verzweiflung wieder zur Sekte zurückkehrten.
«Ich kann mir das mit dem Fall in Hamburg genau so vorstellen: Wenn ein Mann aus der Organisation ausgeschlossen wird, seine Frau, Kinder, Freunde und Familie nicht mehr sehen darf, dann sind solche Taten durchaus denkbar», meint Micha Barth zu Blick. «Das ist der absolute Horror, was so eine Sekte mit Menschen anstellen kann.»