Natalie Barth (42) hat ihre Familie verloren. Nicht durch einen Schicksalsschlag – sondern an die Zeugen Jehovas. «Meine eigene Mutter hat mich überall blockiert. Ich kann ihr nicht mal bei Whatsapp schreiben», sagt sie. Auch ihre zwei jüngeren Schwestern tun so, als hätte es Natalie nicht gegeben. «Das zerstört mich fast. Sie behandeln mich, als wäre ich eine Aussätzige», sagt sie zu BLICK.
Doch genau das ist sie. Zumindest nach Meinung der Zeugen Jehovas. Natalie und ihr Ehemann Micha Barth (43) sind Aussteiger, leben nahe Luzern – und reden offen über ihren Austritt.
Ächtung nennt sich der Umgang mit Personen, die bei den Zeugen Jehovas aussteigen. Kontakt unerwünscht. Nicht einmal grüssen. Niemanden. Auch nicht die eigene Tochter, den Sohn, den besten Freund. «Menschen, die enge Freunde waren, behandeln mich wie Luft», sagt Micha Barth. Er und seine Frau sind 2018 ausgestiegen. Beide wurden in die Religionsgemeinschaft hineingeboren, die sie heute Sekte nennen.
Natalies Mutter verstösst ihre Tochter – nennt sie Zombie
40 Jahre glaubten sie, dass jeder, der kein Zeuge Jehovas ist, unter der Herrschaft Satans stehe. Natalie war zehn Jahre alt, als sie erstmals Depressionen hat. «Ich habe jeden Tag geheult, hatte Selbstmordgedanken.» Dem kleinen Mädchen erzählte man immer weiter von Satan und Dämonen. Heute verarbeitet sie das Erlebte, indem sie in Youtubevideos offen davon erzählt.
Jahrelang war sie Teil einer 20'000-Zeugen-Jehovas-Gemeinschaft. Dann kam 2018 der Bruch mit der Sekte. Ihre Mutter schreibt ihr einen letzten Brief. «Sie schrieb, ich sei ein Zombie und von Micha Barth zum Aussteigen manipuliert worden.» Natalie wusste, dass sie von ihren Liebsten fortan verstossen wird. Dennoch hoffte sie insgeheim, es würde nicht passieren. Fehlanzeige! Seit sie sich offen zu dem Ausstieg bekennen, erhalten sie Nachrichten von Zeugen Jehovas. Darin heisst es zum Beispiel: «Lügner, Verleumder, Satan hat dich geholt.»
Ächten der Zeugen-Jehovas-Aussteiger ist Mobbing
Dass man das Ächten ungestraft Mobbing und menschenrechtsverachtend nennen kann, ist neu. Die Zeugen Jehovas klagten 2015 die Schweizer Sektenexpertin Regina Spiess an. Sie warfen ihr üble Nachrede vor, weil diese sich unter anderem kritisch gegen die Praxis der Ächtung äusserte. Die Angeklagte wurde am 9. Juli 2019 freigesprochen. Sie konnte die Wahrhaftigkeit ihrer Kritik beweisen. Die Zeugen haben, anders als angekündigt, keine Berufung gegen das Urteil eingelegt, womit das Urteil rechtskräftig ist.
Wird sich jetzt etwas ändern? Regina Spiess zu BLICK: «Wenn der politische und gesellschaftliche Druck gegen die Praxis der Ächtung wächst, kann sich etwas verändern. Wenn wir als Gesellschaft sagen, Mobbing dulden wir nicht, auch nicht in religiösem Kontext.» Erlaube ein Staat die Ächtung, toleriere er schwarze Löcher der Rechtlosigkeit in einer Gesellschaft, weil Ächtung grundlegende Rechte der Betroffenen unterlaufe.
«Ächtung kann psychisch krank machen»
Zur Praxis der Ächtung sagt sie: «Zeugen Jehovas lernen, dass Aussteiger ‹geistig krank› oder ‹Küchenhelfer Satans› sind, also das Schlimmste, was man sich vorstellen kann.» Die Zeugen Jehovas beteuern auf die Ächtung angesprochen, dass es kein konkretes Kontaktverbot mit Aussteigern gebe. «Für den Umgang mit ausgeschlossenen Familienmitgliedern gilt, dass unsere Mitglieder selbst entscheiden, wie sie den von der Bibel vorgegebenen Massstab umsetzen. Sie haben jedenfalls das grundrechtlich geschützte Recht, über ihren Umgang mit ausgeschlossenen Familienmitgliedern frei zu entscheiden.»
Das Aussteiger-Ehepaar Barth erlebt das anders. Laut ihnen handelt es sich um ein Verbot. Wer dennoch mit Ausgetretenen Kontakt habe, müsse mit Konsequenzen rechnen. Der Umgang und der Verlust des gesamten persönlichen Umfelds seien zermürbend. «Es kann einen psychisch krank machen – und ist ganz klar Mobbing», so Micha Barth.
Das Ehepaar lebt heute frei von Gedanken an böse Mächte und Endzeitprophezeiungen. Natalie Barth sagt, den Ausstieg und die Freiheit gewählt zu haben, sei das Beste, was ihr passiert ist. Selbst wenn es den schmerzlichen Verlust ihrer Familie bedeutet.
Sekten erleben wegen der Coronavirus-Pandemie einen Aufwind. Das merkt Susanne Schaaf, Leitung der Fachstelle Infosekta. Durch die Krise seien innerhalb der Bevölkerung Unsicherheiten entstanden, viele Ängste geweckt wurden. «Sektenhafte Gemeinschaften geben vermeintliche Sicherheit in dieser Krisenzeit. Aktuell entsteht der Eindruck, dass mehr Leute anfälliger für Gedanken und Angebote aus sektenhaften oder verschwörungstheoretischen Milieus sind», sagt sie.
Die Krise würde zudem von den Zeugen Jehovas instrumentalisiert. «Sie sehen die Corona-Pandemie als eine in der Bibel angekündigte Seuche. Sie wird zum Indiz für das nahende Welt-Ende und bestätigt die Endzeitstimmung in der Gemeinschaft», erklärt Schaaf. Genaue Zuwachszahlen gibt es aktuell nicht.
Sektenhafte Gemeinschaften nutzen Pandemie
«Sektenhafte Gemeinschaften waren bereits vor der Corona-Krise aktiv. Sie bieten Erklärungs- und Lösungsmodelle für persönliche Probleme, die Welt wird auf übersichtliche Zusammenhänge reduziert», so Schaaf.
Auch Aussteigerin Natalie Barth sagt: «Eine Pandemie macht Angst, das nutzen die Zeugen Jehovas jetzt, um neue Mitglieder zu generieren.» Die Zeugen Jehovas sagen jedoch auf BLICK-Anfrage: «Man beschäftigt sich zunächst einmal ausführlich, oft mehrere Jahre und systematisch mit den Glaubenslehren, bevor man sich zur Taufe entschliesst.» Einen Kausalzusammenhang zwischen Pandemie und Mitgliederzahlen erkennen sie nicht.
Sekten erleben wegen der Coronavirus-Pandemie einen Aufwind. Das merkt Susanne Schaaf, Leitung der Fachstelle Infosekta. Durch die Krise seien innerhalb der Bevölkerung Unsicherheiten entstanden, viele Ängste geweckt wurden. «Sektenhafte Gemeinschaften geben vermeintliche Sicherheit in dieser Krisenzeit. Aktuell entsteht der Eindruck, dass mehr Leute anfälliger für Gedanken und Angebote aus sektenhaften oder verschwörungstheoretischen Milieus sind», sagt sie.
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