Die Vorwürfe der Ermittler sind unvorstellbar: Nach einer Nacht im Ausgang mit Alkohol, schlich sich der Teenager Tom P.* (damals 17) Anfang September 2023 in ein Haus und würgte das neunjährige Nachbarsmädchen Vanessa T.*. Der Grund gemäss seiner Aussage: Sie wachte auf und er befürchtete, dass sie schreien könnte. «Dann machte ich das ganze Zeugs mit dem Würgen», sagte Tom P. nach der Tat bei einer Befragung aus. Das Protokoll liegt Blick vor. Durch das Röcheln der Tochter wachte ihre Mutter auf und störte den Täter. Vermutlich rettete das ihrem Kind das Leben.
Wie Blick-Recherchen zeigen, ermittelt die Aargauer Jugendanwaltschaft nun wegen versuchter Tötung und allenfalls versuchter Vergewaltigung. Aktuell ist Tom P. in einem Jugendheim für Straftäter untergebracht.
Doch was spielt sich im Kopf eines jungen Gewalttäters ab, wenn er ein Kind im Schlaf am Hals packt und zudrückt? Auch mit solchen Fällen muss sich der forensische Psychologe, Psychotherapeut und Professor Jérôme Endrass (53) wissenschaftlich auseinandersetzen. Für Blick analysiert er, was hinter einer solchen Tat stehen könnte.
Die beruhigende Nachricht zuerst: «Ein solch extremer Fall ist äusserst selten», sagt der Experte.
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Schwere psychische Störung?
«Bei so schweren Taten geht der Fächer der Ursachen weit auf», sagt der forensische Psychologe Jérôme Endrass. Eine mögliche Erklärung: «Eine Ursache könnte in einer schweren psychischen Störung liegen. Es könnte eine beginnende Schizophrenie sein. Hört er Stimmen? Mit 17 Jahren ist der Verhaftete genau in dem Alter, wo sich die Psychose zum ersten Mal manifestieren würde.»
Eine medikamentöse Behandlung wäre in dem Fall angesagt und hätte auch gute Erfolgschancen, so der Fachmann.
Persönlichkeitsstörung?
Die zweite mögliche Ursache, die der Psychologie-Experte nennt, ist die Zeugenbeseitigung. Der Teenager bestreitet jedoch jegliche Tötungsabsicht. «Das wäre eine ganz andere Motivation. Der Täter wäre bereit, für einen nichtigen Anlass ein Leben zu gefährden. Bei einem Erwachsenen würde man von einer Persönlichkeitsstörung reden», sagt Endrass. Eine langjährige stationäre Psychotherapie sei in dem Fall die Massnahme.
Als dritte Variante könnte die Tat sexuell motiviert sein. «Auch hier wäre ein forensisch therapeutischer Aufenthalt angesagt», sagt Jérôme Endrass. Weil jeder Mensch sehr unterschiedlich ist, resultiere nicht selten eine Mischung aus den drei Ursachen. «Bei der Analyse muss der Fachmann die Wurzel des Problems erkennen, um die richtige Therapie zu bestimmen.»
Hohe Rückfallgefahr?
Wie gut die Behandlung anschlägt, kann sehr unterschiedlich sein: «Statistisch gesehen ist die Rückfallgefahr bei jungen Tätern am höchsten. Mit dem Alter geht sie zurück», sagt Endrass. Dabei sei die Wiederholungswahrscheinlichkeit bei sexuell motivierten Taten am kleinsten, bei einem Gewalt- oder Raubdelikt am höchsten. Immerhin: «Die Ansprechbarkeit für eine Psychotherapie ist im Teenie-Alter am besten», sagt Endrass.
Was genau passiert ist und warum, wird sich in den kommenden Monaten klären. Sicher ist jedoch, dass die Attacke sowohl das Opfer als auch ihre Familie länger beschäftigen dürfte. Bis zu einem rechtskräftigen Urteil gilt für den Beschuldigten die Unschuldsvermutung.
* Namen geändert