Klaus Hurschler (55) hat die Hoffnung schon fast aufgegeben. Eigentlich wollte der Wildhüter aus Engelberg OW in der Dämmerung ein paar Gämsen präsentieren. Aber in seinem Revier – wo manchmal ein Wolf, ein Steinadler oder sogar ein Bär anzutreffen sind, sonst regelmässig Murmeltiere, Steinböcke und Hirsche – rührt sich heute nichts. Das Wild ist weg.
Hurschler trägt ein grünes Jägershirt und hält einen Wanderstock. Nacken, Arme und Gesicht sind braun gebrannt, er blinzelt durch den Feldstecher. Nur hoch oben am Berg, dem Vorder Walenstock, bewegt sich etwas, mit blossem Auge unmöglich zu sehen.
Wildtiere fliehen in die Höhe
«Dieses Jahr ist alles anders», murmelt er. In seiner Mundart tönt es heimelig. Hurschler ist sowieso keiner, der schimpft. Aber eigentlich war das gerade ein Warnruf. Der Mann, der seit zehn Jahren Flora und Fauna beobachtet, lässt das Glas sinken: «Die Wildtiere werden aus ihren Lebensräumen verdrängt. Sie fliehen in die Höhe oder in die Wälder.»
Seit Corona sind viel mehr Menschen in der Natur unterwegs. Um der Enge des Daseins in den eigenen vier Wänden zu entfliehen, um einen Bogen um riskante Feriendestinationen zu machen, um Virenschleudern aus dem Weg zu gehen. Schon zu Ferienbeginn berichtete SonntagsBlick über den zunehmenden Dichtestress in den Bergen. Das Gedränge wurde seither nicht weniger. Auf diese Weise hat die Pandemie nun also auch Murmeli, Steinbock und Co. erreicht.
«Diese Leute bewegen sich kreuz und quer»
Als die Touristen noch aus dem Ausland stammten, waren sie einfacher zu lenken, erinnert sich der Wildhüter. Weil solche Natur-Novizen nur selten eine Karte lesen konnten, blieben sie brav auf den Wanderwegen. Gut für das Wild, denn wer auf dem Weg geht, ist für die Tiere keine Bedrohung, auf die sie reagieren müssten. Seit Beginn der Pandemie jedoch bevölkern ausschliesslich Schweizer das Revier, oft auch solche, die ihre Abenteuer früher im Ausland suchten.
Wildcamper, Kletterer, geübte Wanderer. «Diese Leute bewegen sich kreuz und quer, neben den Wegen, auch im Naturschutz- oder Jagdbanngebiet», sagt Hurschler. Das bedeute Stress für die Tiere.
Eindrückliche Bilder der Corona-Invasion gab es schon früh einige Berge weiter zu bestaunen. Auf dem Gipfel des Mythen im Kanton Schwyz drängten sich die Wanderer phasenweise wie Papageientaucher auf den Felsen Islands.
Raschle musste Ausflügler anzeigen
«Wir wurden überrannt», sagt Markus Raschle, auch er ein Wildhüter. Sein ernüchterndes Fazit: Viele Leute wollten die Natur nutzen, ohne Rücksicht zu nehmen. «Sie machen Feuer mitten auf der Wiese, campieren im Schutzgebiet oder schrecken das Wild auf.» Raschle musste Ausflügler aus allen Landesteilen anzeigen: Waadtländer, Berner, Zürcher. Mancher habe sich völlig unvorbereitet rausgewagt, ohne die geringste Ahnung von Berg und Natur zu haben.
Auch in Raschles Revier in Schwyz haben sich die Wildtiere zurückgezogen. Gerade seltene Arten wie Raufusshühner, etwa das Birkhuhn, seien sehr empfindlich. Werde deren Balz gestört, gebe es keine Fortpflanzung und keine Brut, der Bestand nimmt ab. «Wie viel Druck und Stress mögen die Tiere noch ertragen?», fragt sich Raschle. Irgendwann, so viel ist für den Wildhüter klar, kommen sie an ihre Grenzen.
Unten in Bern kennt man das Problem. «Viel mehr Menschen suchten und suchen Erholung und Bewegung in der Natur, insbesondere auch in sensiblen Naturräumen und Schutzgebieten, was zu vermehrter Störung der Wildtiere führt», bestätigt das Bundesamt für Umwelt. Diese Rückmeldung habe man aus verschiedensten Kantonen erhalten. Manche Kantone, zum Beispiel Appenzell Innerrhoden, schliessen mittlerweile nicht mehr aus, Wildcamping künftig zu verbieten.
Ein Schatten bewegt sich über den Hang ...
Aber dann, kurz nach sieben Uhr, wagen sie sich in Obwalden doch noch hervor: Ein, zwei, drei Gamskitze samt Muttertieren laufen ungestört talabwärts. Sie nähern sich Hurschler auf 200, 180, 150 Meter.
Aiko, sein Bayerischer Gebirgsschweisshund, hält das Stillsitzen fast nicht mehr aus. Als die Gämsen die Baumgrenze erreichen, stossen sie auf eine Gruppe junger Rinder. Viel zu viel Trubel für die scheuen Wildtiere, die nun im Affenzahn wieder die Felswand hochjagen.
Zelte hingegen sind an diesem Tag in Hurschlers Revier keine zu sehen. «Die Ferienzeit ist vorbei, die Tiere wagen sich langsam wieder herunter», sagt der Wildhüter und tönt durchaus erleichtert.
Tatsächlich streckt auch noch ein Murmeltier den Kopf zur Höhle heraus. Der scheue Nager wagt sogar einen kurzen Spaziergang, bis ihn eine Gefahr jäh aufschrecken lässt und zurück in den Bau treibt.
Bedrohlich bewegt sich ein Schatten über den Hang. Nein, kein anmutiger Steinadler zieht da seine Kreise, sondern ein Gleitschirmflieger.
Bereits ein einziges der bunten Fluggeräte könne die Wildtiere einer ganzen Bergflanke in die Flucht schlagen, erläutert Hurschler. Die Auswirkungen ihres Freizeitvergnügens seien vielen Piloten wohl kaum bewusst.
An manchen Tagen zählte der Naturfreund schon 200 Gleitschirmflieger. Diese Häufung, das müsse man leider sagen, existiere allerdings nicht erst seit Corona.
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