In der Nacht zum Sonntag, 29. Juli 2018: Léonie Suter* trifft im Ausgang zwei Männer, man trinkt zusammen. Schliesslich nimmt sie mit ihnen ein Taxi zur Wohnung von Lucas Peeters*, einem der beiden, nimmt sich einen weiteren Drink.
Die 21-jährige Studentin legt sich schlafen, sagt den beiden aber noch, sie wolle keinen Sex. Mit keinem der beiden. Sie wacht auf, als Peeters ihr die Jeansshorts auszieht. Sie sagt ihm, er solle aufhören, der 26-Jährige macht weiter.
Eine Standard-Vergewaltigung
Eine Standard-Vergewaltigung nennt sie es. Ein missratener One-Night-Stand wird das Gericht später urteilen.
Léonie, so erzählt sie es, rennt aus der Wohnung, irrt im Morgengrauen durch die Gassen, bis sie merkt, dass sie ihre Tasche bei Peeters vergessen hat. Versucht, das Haus zu finden, scheitert aber und fährt zum Hauptbahnhof. Sie muss schlimm aussehen: übernächtigt und tränenüberströmt.
Ein Fremder bringt sie zur Apotheke. Dort fragt sie nach der Pille danach, kann aber nicht zahlen, weil ihre Tasche fehlt. Die Apothekerin drückt ihr einen Stadtplan in die Hand, das Unispital umkreist.
Sind Sie oder Angehörige von sexueller oder häuslicher Gewalt betroffen? Hier finden Sie Hilfe:
- Opferhilfe Schweiz - Übersichtsseite für Betroffene und Angehörige
- BIF – Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft
- Mannebüro Züri – spezifisch für Männer, gegen Gewalt
- Frauenberatung sexuelle Gewalt – für Frauen
- Kokon – Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche
- Die Dargebotene Hand
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Léonie ist eine zierliche Frau, sie spricht leise und gefasst. Manchmal zittern ihr beim Erzählen die Hände. Sie weiss, ihr ist etwas passiert, was nicht hätte passieren dürfen. Den Begriff «Vergewaltigung» will sie damals noch nicht aussprechen: «Ich dachte, wenn ich es benennen würde, müsste ich mich als Opfer sehen, wäre in einer Position der Schwäche.»
Von Mann untersucht
Die Ärztinnen in der Frauenklinik empfehlen eine forensische Untersuchung. Léonie wird in Anwesenheit einer Polizistin von einem Rechtsmediziner untersucht. «Es ist halt Sonntag», begründet das Spital, dass keine Frau zur Verfügung stehe. Der Mediziner gibt ihr ein Medikament zur HIV-Prophylaxe mit.
Vergewaltigung ist ein Offizialdelikt, die Polizei muss Ermittlungen aufnehmen – auch wenn das Opfer keine Anzeige erstattet. Léonie wird direkt nach der Untersuchung drei Stunden lang von einer Polizistin befragt. Um 21 Uhr am Sonntagabend ist sie wieder zu Hause.
Die Opferberatung rät ihr von einer Anzeige ab: Das Verfahren sei belastend, zu Verurteilungen komme es selten. Damals irritiert es sie, heute verstehe sie diese Aussage. Die Opferhilfe verweist sie an die Anwältin Brigit Rösli, die häufig Opfer von Sexualdelikten vertritt.
Einen Monat später beginnen die Albträume. Dazu kommen Panikattacken. Ihr Mitbewohner legt Léonie nahe, Hilfe bei einer Psychologin zu holen. Die attestiert eine posttraumatische Belastungsstörung.
Lange Befragung
Im Dezember 2018 wird Léonie Suter vom Staatsanwalt befragt. Sechs Stunden lang muss sie intimste Details jener Nacht preisgeben. Per Videoübertragung verfolgen der Beschuldigte und dessen Anwalt die Befragung.
«Schlimm» sei das gewesen, sagt sie heute. Der Staatsanwalt habe gefragt, ob sie sich von der Anzeige eine Entschädigung erhoffe. Oder den Preis für die Pille danach, 40 Franken, nicht zahlen zu müssen? Irgendwann, so erinnert sich Léonie Suter, packt die Protokollführerin ein Sandwich aus und beisst hinein.
Der Staatsanwalt fragt: «Wie kann es jemand schaffen, Frau Suter, Ihnen die Jeansshorts auszuziehen, wenn Sie sich wehren?» Das sei ja mit so engen Hosen selbst bei einvernehmlichem Sex schwierig.
Nein soll in Zukunft gelten
Bis heute gilt im Sexualstrafrecht, dass eine Frau glaubhaft machen muss, dass sie sich mit allen Mitteln gewehrt hat – sonst ist es keine Vergewaltigung. Mit der Gesetzesänderung, die das Parlament diese Woche diskutiert hat, genügt in Zukunft ein Nein – auch ein stillschweigendes.
Am Problem der Beweisbarkeit ändert auch das neue Sexualstrafrecht nichts. Häufig sind die Aussagen der beiden die einzigen Beweismittel. Steht Aussage gegen Aussage, muss das Gericht herausfinden, wer glaubwürdiger ist. Wie in Léonies Fall.
Kommentar zum Thema
Als der Beschuldigte im März 2019 befragt wird, gibt er zu, er habe den Sex zwar initiiert, es sei aber einvernehmlich gewesen. Beide hätten es gewollt und genossen. Als Léonie nach einer Weile «Stopp» sagte, habe er sofort aufgehört. Als er danach noch einmal fragte, ob alles in Ordnung sei, habe sie das bejaht. Er habe sogar Freunden von der schönen Nacht erzählt.
Der Staatsanwalt erhebt im April 2019 schliesslich Anklage – widerwillig. Zuvor fragte er Léonie Suter noch, ob sie in einen aussergerichtlichen Vergleich einwillige. Sie lehnte ab. Die spärliche Anklageschrift hat mehrere Schreibfehler, vor Gericht selbst sagt er, er sei froh, müsse er heute keine Entscheidung treffen
Am Dienstag hat der Ständerat einer Lösung zugestimmt, die das Schweizer Sexualstrafrecht modernisiert: Mehr Fälle von sexueller Gewalt werden als Vergewaltigung qualifiziert.
«Eine wichtige Änderung», sagt Anwältin Brigit Rösli. Künftig werde man sich bei Fällen wie dem von Léonie Suter* mehr auf das Verhalten des Mannes fokussieren – und nicht mehr darauf, ob sich da Opfer genügend gewehrt hat.
Sie geht davon aus, dass es zu mehr Anzeigen kommt. Die Belastung eines Verfahrens aber bleibe: «Man muss ertragen können, dass man immer wieder mit dem Vorgefallenen konfrontiert und infrage gestellt wird.»
Auch heute bestünden seitens Staatsanwaltschaft oder Gericht Vorbehalte – gerade gegenüber jüngeren Frauen. «Man denkt dann, die wollten etwas ausprobieren, könnten nachher nicht mehr dazu stehen und interpretierten es als Gewalttat.» Die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft schreibt, Staatsanwälte führten Verfahren mit der erforderlichen Professionalität. (lia)
Am Dienstag hat der Ständerat einer Lösung zugestimmt, die das Schweizer Sexualstrafrecht modernisiert: Mehr Fälle von sexueller Gewalt werden als Vergewaltigung qualifiziert.
«Eine wichtige Änderung», sagt Anwältin Brigit Rösli. Künftig werde man sich bei Fällen wie dem von Léonie Suter* mehr auf das Verhalten des Mannes fokussieren – und nicht mehr darauf, ob sich da Opfer genügend gewehrt hat.
Sie geht davon aus, dass es zu mehr Anzeigen kommt. Die Belastung eines Verfahrens aber bleibe: «Man muss ertragen können, dass man immer wieder mit dem Vorgefallenen konfrontiert und infrage gestellt wird.»
Auch heute bestünden seitens Staatsanwaltschaft oder Gericht Vorbehalte – gerade gegenüber jüngeren Frauen. «Man denkt dann, die wollten etwas ausprobieren, könnten nachher nicht mehr dazu stehen und interpretierten es als Gewalttat.» Die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft schreibt, Staatsanwälte führten Verfahren mit der erforderlichen Professionalität. (lia)
Im Juli 2019 findet der Prozess vor dem Bezirksgericht Zürich statt. Léonie Suter steht vor den Richtern – dort wo üblicherweise Beschuldigte stehen, nicht Geschädigte. «Lucas Peeters meinte, sie hätten mehrmals einen Orgasmus gehabt. Haben Sie es nicht genossen, Frau Suter?»
Suter zittert, ihre Anwältin beantragt, dass sich Léonie setzen darf.
Das Dreiergericht hat Zweifel, ob der Beschuldigte hören und spüren konnte, dass Léonie den Sex nicht wollte. Es hält beide Schilderungen für in sich glaubhaft. In diesen Fällen muss der Beschuldigte «in dubio pro reo» freigesprochen werden. Es ist ein Grundsatz des Strafrechts.
Unangebrachte Bemerkungen aus Urteilsbegründung verschwunden
Für Léonie Suter ist die Begründung des Vorsitzenden Richters ein Hohn. Sie liest aus ihrem Tagebuch vor: «Der Richter sagt, heute sei nicht die Wahrheit gefunden worden. Was in dieser Nacht passiert sei, wisse wahrscheinlich niemand ausser den Betroffenen. Bei meiner Geschichte blieben viele Fragen offen. Wie hat er mir die Hosen ausziehen können, ohne dass sie beschädigt werden? Warum wisse ich nicht mehr, wie der Rest meiner Kleider wegkam? Warum wollte ich am Morgen als Erstes zurück in die Wohnung? (...) Er sagte, ich wirke wie ein schwaches Opfer: ‹Ich habe Sie heute so viele Male nicht verstanden, Frau Suter. Dabei wäre das der Moment gewesen, wo sie hätten hinstehen und für sich einstehen können.› Er wisse, dass an diesem Abend etwas passiert sei, was ihr ‹ganz und gar nicht› gepasst habe. Aber ich hätte ja auch Fehler gemacht.» In der schriftlichen Urteilsbegründung ist von diesen Bemerkungen nichts mehr zu lesen.
Mehr zum Sexualstrafrecht
Nach der Verhandlung geht es Léonie schlecht. «Ich hatte damals bereits das Gefühl, dass ein solcher Angriff jederzeit wieder passieren könnte. Sobald ich einschlafe, Alkohol trinke oder sonst unaufmerksam bin. Und nach diesem Urteil dachte ich: Selbst wenn das passiert, hilft dir niemand.»
Da ihre Psychologin in den Ferien ist, meldet sie sich beim Krisendienst des Universitätsspitals – nur, um zu reden. Der Krisendienst lässt sie wegen akuter Suizidalität in eine geschlossene psychiatrische Klinik bringen.
Léonie Suter zieht das Urteil weiter. «Ich kann einen Freispruch akzeptieren, aber wenn, dann stichhaltig und nicht mit Vorurteilen gespickt», sagt sie. Der Staatsanwalt macht beim Weiterzug nicht mit. Das bedeutet, dass Léonie von nun an das finanzielle Risiko allein trägt. Sie hat Glück, dass Anwältin Rösli sie unentgeltlich vertritt.
Im Dezember 2020 – zweieinhalb Jahre nach der verhängnisvollen Nacht – wird Peeters vor Obergericht erneut freigesprochen. Aber: «Ich erlebte diesen Prozess ganz anders.» Der Fokus habe stärker auf seinem Verhalten gelegen, die Begründung sei «einigermassen» vorurteilsfrei gewesen. Eher so, wie es sein sollte.
Heute ist Léonie 25 Jahre alt und hat ihr Studium abgeschlossen. Es gehe ihr besser. «Ich bin froh, habe ich damals Anzeige erstattet, aber ich würde es nie mehr tun. Und einer Kollegin würde ich es nicht empfehlen. Niemals.»
*Namen geändert
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