Mit nichts ausser drei Rucksäcken, gefüllt mit ihren Papieren und ein paar Snacks, sind sie vor knapp zwei Monaten in die Schweiz geflüchtet: Mutter Nina Gryzenko (49) und zwei ihrer insgesamt vier Kinder, Mykyta Gryzenko (9) und Angelina Kovaltchyk (12). Die ukrainische Familie, die aus Pokrosk stammt, einem Ort 80 Kilometer von Donezk entfernt, ist dem Tod im Heimatland nur knapp entronnen.
Unterdessen leben die Flüchtlinge, die aus sehr ärmlichen Verhältnissen stammen, bei einer Gastfamilie in Wynau BE. Dafür sind sie unendlich dankbar. Doch seit ihrer Ankunft in der Schweiz träumen insbesondere die beiden Kinder davon, einmal im Leben die Alpen zu sehen. «Die Ukraine hat zwar auch Berge, aber unsere Eltern mussten sehr viel arbeiten und darum konnten wir bis jetzt noch nie in die Berge fahren», erklärt Angelina ihren Herzenswunsch in ihrer Muttersprache, eine Dolmetscherin übersetzt.
«Ich bin so aufgeregt»
Blick hat vom Traum der Flüchtlingskinder erfahren und ihn erfüllt. Die Familie soll aber nicht bloss irgendeinen Berg sehen, sondern den bekanntesten aller Schweizer Gipfel – das Matterhorn. An einem heissen Sonntag im Mai war es schliesslich so weit und die Familie reiste per Zug ins Wallis. Nach einem Überraschungsempfang von der Fame Dance Company aus Visp VS ist aus der Ferne dann auch schon das Geräusch der Rotorblätter zu hören.
«Ich bin so aufgeregt», sagt Mykyta. Seine Augen leuchten, als er auf dem privaten Heli-Landeplatz der Blackrock-Lofts in Stalden VS steht und der Pilot von Alpine Helicopters angeflogen kommt. Die beiden Firmen offerierten der Familie den Flug. «Hurra, Hurra!», schreit der Ukrainer und hüpft aufgeregt herum.
Schneeballschlacht und strahlende Gesichter
Mutter Nina und Teenager Angelina freuen sich zwar auch, doch ihnen steht die Angst ins Gesicht geschrieben. «Wir sind noch nie in unserem Leben geflogen», erklären sie. Sie sind schüchtern, zurückhaltend und nervös. Doch die beiden überwinden sich und steigen in den Helikopter ein – die Vorfreude darauf, endlich die Berge zu sehen, ist grösser als die Flugangst.
Mykyta kommt aus dem Staunen fast nicht heraus: «Es kribbelt im ganzen Körper.» Der junge Pilot fliegt nah ans Matterhorn heran und auch Angelina ist beeindruckt: «Die Berge sind so hoch, aber wir sind sogar noch weiter oben.» Bei der Zwischenlandung auf dem Unterrothorn tollen die Kinder im Schnee und werfen Schneebälle, Angelinas Turnschuh bleibt im tiefen Schnee stecken und sie muss ihn herausfischen. Doch auch die nassen Schuhe trüben die Freude nicht.
Die traurige Realität
Nach der Rückkehr hat sich das vorher traurige Gesicht des Teenagers plötzlich aufgehellt. Sie hat ein Lächeln auf den Lippen, spricht mehr und wirkt glücklicher. Ihre Mutter weint vor Dankbarkeit, meint aber auch: «Wir hätten uns gewünscht, dass die Umstände anders sind. Der Preis, den wir zahlen mussten, um das nun zu erleben, ist sehr hoch.»
Die Realität holt die ukrainische Familie bei diesen Worten wieder ein, sie beginnen von ihrer Flucht zu erzählen. «Unser Haus wurde bombardiert und da wussten wir, dass wir nun nicht mehr länger bleiben können», sagt Angelina und bricht ebenfalls in Tränen aus. «Ich werde nie vergessen, was ich dort gesehen habe.» Die Familie hat ihr altes Leben zurückgelassen, auch viele Angehörige und Freunde sind zurückgeblieben. Der Bruder von Angelina und Mykyta kämpft an der Front, die Angst um ihn ist riesig.
Ein unvergesslicher Tag
Ausserdem sei vieles in der Schweiz so anders als daheim. «Ihr esst viel Gemüse, das wir gar nicht kennen», sagt der Junge. Dass die Familie irgendwann in die Heimat zurückkehren will, steht für alle drei fest: «Aber das kann Jahre dauern.» Bis es so weit sei, wollten sie sich hier so gut wie möglich integrieren und rasch Deutsch lernen.
Mit ihrer Gastfamilie hätten sie es dafür nicht besser treffen können, erzählt Mutter Nina: «Das sind unfassbar liebe Leute!» Rührend würde sich das Berner Ehepaar um sie kümmern. Und: «Wir danken Blick, dass wir die Berge sehen durften. Wir konnten einen Moment lang unsere Sorgen vergessen und werden dieses Erlebnis in unseren Herzen irgendwann auch wieder mit nach Hause in unsere Heimat tragen.»