«Ich bestärke die Eltern, das Kind kennenzulernen»
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Tabuthema früher Kindstod:«Ich bestärke die Eltern, das Kind kennenzulernen»

Wenn Geburt und Tod zusammenfallen
«Ich bestärke die Eltern, das Kind kennenzulernen»

Georgina Rodríguez und Cristiano Ronaldo haben ihr Kind verloren. Anna Margareta Neff Seitz begleitet Familien, die das Gleiche durchleben.
Publiziert: 24.04.2022 um 10:49 Uhr
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Aktualisiert: 30.04.2022 um 08:20 Uhr
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Georgina Rodríguez (28) und ihr Partner, der Fussballer Cristiano Ronaldo (37), haben ihren jüngsten Sohn verloren.
Foto: Instagram @cristiano
Dana Liechti

An der Wand hängt ein rotes Herz aus Papier, verziert mit vielen kleineren, mit Namen beschrifteten Herzen. Jedes erinnert an ein Kind, das noch im Bauch der Mutter oder bei der Geburt verstorben ist. Hier, in den Räumlichkeiten der Fachstelle kindsverlust.ch im Berner Monbijou-Quartier, begleiten Anna Margareta Neff Seitz und ihr Team Familien, die ihre Kinder früh gehen lassen müssen. 20'000 Kinder sterben hierzulande jährlich in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten oder der ersten Schwangerschaftshälfte. Durchschnittlich zwei Familien pro Tag verlieren ihr Kind in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft – das sind pro Jahr zwischen 600 und 700 Kinder, die tot zur Welt kommen.

Dasselbe durchleben momentan auch Georgina Rodríguez (28) und ihr Partner, Fussballstar Cristiano Ronaldo (37). Sie haben ihren jüngsten Sohn verloren. Das Paar erwartete Zwillinge – das neugeborene Mädchen hat überlebt.

Frau Neff Seitz, vor einigen Tagen haben Georgina Rodríguez und Cristiano Ronaldo bekannt gegeben, dass einer ihrer Zwillinge verstorben ist. Was ging Ihnen durch den Kopf?
Anna Margareta Neff Seitz:
Es ist gut, dass sie darüber sprechen. Denn der frühe Kindstod ist – obwohl er eine Realität ist – leider immer noch ein Tabuthema. In unseren Köpfen gibt es eine konkrete Vorstellung vom Lauf des Lebens. Stirbt ein Mensch, bevor er überhaupt auf die Welt kommt, ertragen wir das kaum aus.

Kann man einen solchen Schicksalsschlag überhaupt verarbeiten?
Ich bin überzeugt, dass es auch nach solch grossen Erfahrungen ein gesundes Weiterleben gibt. Wichtig ist, nicht zu schnell ins Handeln zu kommen nach dem ersten Schock, sondern sich Zeit zu nehmen. Auch wenn viele Eltern zuerst den Impuls haben, das Kind nicht sehen zu wollen, bestärke ich sie darin, die Geburt wie geplant zu erleben. Das Kind zu begrüssen und kennenzulernen, es mit nach Hause zu nehmen, ihm einen Namen zu geben. Und danach zu schauen: Wie können wir Abschied nehmen, Trauer leben, weiterleben als Familie? Diese wichtigen Schritte sollten nicht übersprungen werden.

Was, wenn wie bei Georgina und Cristiano ein Kind lebt und eines stirbt?
Das ist ein unglaublicher Spagat zwischen riesiger Freude und grossem Schmerz. Da erlebe ich bei Eltern oft einen Zwiespalt. Sie möchten nicht zu fest traurig sein, weil da ja ein Kind ist, das lebt. Und gleichzeitig auch nicht zu fest Freude haben am lebenden Kind, weil sie denken, so dem verstorbenen nicht gerecht zu werden. Ich bestärke die Eltern dann darin, alle Gefühle zu leben. Es darf Freude da sein, genauso wie Tränen, Schmerz, Trauer. Und man muss sich auch Geschwisterkindern gegenüber nicht zusammenreissen.

Sondern?
Sie von Beginn an miteinbeziehen, egal, wie klein sie sind. Muten Sie den Kindern den Umgang mit Trauer zu, lassen Sie sie das verstorbene Geschwisterkind kennenlernen. Kinder machen das ganz fantastisch. Sie sind sowieso die besten Vorbilder, wenn es ums Trauern geht. Kinder leben uns vor: Man darf Freude haben und fünf Minuten später traurig sein.

Sie haben als Hebamme und Trauerbegleiterin selbst schon viele Familien bei einer Totgeburt begleitet. Was ist dabei besonders wichtig?
Die Erkenntnis, dass die Betroffenen Eltern geworden sind, auch wenn das Kind nicht mehr lebt. Ich versuche herauszufinden, was sie sich vorgestellt haben für ihr lebendiges Kind, und dann möglichst viel davon umzusetzen, auch wenn es verstorben ist. Also etwa, dass der Vater bei der Geburt dabei ist und das Kind danach wäscht. Das sind wichtige Handlungen. Wenn etwas fassbar wird, kann ein gesunder Trauerprozess gelingen. Dasselbe gilt übrigens auch für frühe Fehlgeburten.

Reagieren Mutter und Vater anders?
Gerade bei der Frau wird seit Beginn der Schwangerschaft alles aufs Muttersein und -werden vorbereitet. Ist das Kind nach der Geburt nicht da, läuft die ganze Liebe, die über neun Monate gewachsen ist, ins Leere. Das schafft eine unglaublich grosse Verletzlichkeit und direkte Trauer. Männer hingegen werden meist erst nach der Geburt zu Vätern – ab dem Moment, wenn sie die Kinder in den Arm nehmen. Darum ist es so wichtig, das auch bei einem verstorbenen Kind zu tun. Trotzdem haben Männer nicht dieselbe körperliche Reaktion wie die Frauen und schauen oft schneller wieder vorwärts, gehen wieder arbeiten. In der Schweiz auch, weil sie hier nach einer Totgeburt keinen Vaterschaftsurlaub haben. Ein Skandal.

Wie steht es hierzulande generell um die Nachsorge nach einer Totgeburt?
Es kommt sehr darauf an, wo die Frau gebärt. Eltern brauchen in einer solchen Situation unbedingt Unterstützung von Hebammen und Fachpersonen. Alleine schafft man das kaum – und muss es auch nicht. Oft haben Eltern die Tendenz, sich zurückzuziehen. Darum ist es wichtig, dass die Hilfe von aussen, also zum Beispiel vom Spital organisiert wird. Das ist leider noch nicht überall selbstverständlich.

Was können Angehörige tun?
Nachfragen, eine Botschaft schicken, etwas vor die Tür stellen, um zu zeigen: Wir denken an euch – ohne Erwartungen. Eltern bestärke ich darin, die wichtigsten Menschen miteinzubeziehen, sie das verstorbene Kind kennenlernen zu lassen oder ihnen zumindest Fotos zu zeigen. So verhindern die Eltern, dass sie alleine sind mit ihrer Trauer.

Persönlich

Anna Margareta Neff Seitz (53) ist Leiterin der Fachstelle Kindsverlust.ch mit Sitz in Bern. Die unabhängige, mit Spenden finanzierte Fachstelle unterstützt Familien beim Tod eines Kindes während Schwangerschaft, Geburt und erster Lebenszeit und bildet Fachpersonen zum Thema aus.

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