Am späten Freitagabend, kurz nach halb zehn, stürmen Selina Lerch (28) und Anthony Zufferey (20) die Bühne im Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL). Auf ihren weissen T-Shirts steht: «Act now!»
Lerch streicht Sekundenkleber auf die rechte Handfläche und klebt sich am Dirigentenpult fest. Er hält nicht allzu gut. Doch auch so ist allen klar, um was es geht: Das Bayrische Staatsorchester, das soeben einen der Höhepunkte im dritten Satz von Anton Bruckners «Romantischer» (4. Sinfonie) erreicht hat, stoppt kurz.
Dirigent Wladimir Jurowski (51) blickt kurz über seine Schulter, bevor er sich wieder umdreht, den Stab hebt und die Streicher erneut ansetzen. «Wir haben Klimawandel, wir müssen jetzt handeln», ruft Lerch über die Musik hinweg.
Zuffereys versteinerte Miene und sein anklagendes Schweigen sollen den Ernst der Aktion unterstreichen. Doch aus dem Publikum ertönen Buhrufe: «Schmeisst sie raus!» – «Freches Gör!» – «Klappe halten!». Das Orchester spielt weiter.
Strassenblockaden machten sie berühmt, aber auch zum Hassobjekt
Acht Stunden zuvor: Lerch und Zufferey treffen sich zum Briefing bei Max Voegtli (30). Spätestens seit seinem Mexiko-Flug im Sommer ist er der bekannteste Aktivist von Renovate Switzerland. Ebenfalls in Voegtlis Wohnung in Zürich-Oerlikon ist Cécile Bessire (28), Mediensprecherin und Gründungsmitglied der Organisation.
Erster Punkt auf der Tagesordnung: Handys einsammeln. Bessire erklärt: «Für die Konzentration.» Dann steht das «Check-in» an. «Wie fühlt ihr euch?», fragt die Mediensprecherin. Lerch fühlt sich «gut», Zufferey «ein wenig nervös».
Renovate Switzerland ist seit rund einem Jahr in der Schweiz aktiv. Ihre Vertreter fordern die Ausrufung des Klimanotstands und die Sanierung sämtlicher Gebäude bis 2030. Ihr Mittel ist der zivile Widerstand: Strassenblockaden machten sie berühmt, aber auch zum Hassobjekt.
Vor kurzem haben die Aktivisten ihre Strategie «diversifiziert», nun besuchen sie auch Events wie das Filmfestival in Locarno TI oder ein Golfturnier in Crans-Montana VS. Man wolle ein neues Publikum erreichen und hoffe, im KKL «Messages platzieren zu können», sagt Bessire. Dirigent Jurowski hat mit seinen Orchestern schon spezielle Programme zum Klimawandel präsentiert.
Aktionen wie die im KKL verlangen den jungen Leuten einiges an organisatorischem Aufwand ab. Erst in Voegtlis Wohnung erfahren Zufferey und Lerch, was genau geplant ist. «C’est la classe», ruft Zufferey begeistert, als er den Einsatzort des Abends erfährt.
Bessire erklärt den beiden den Ablauf des Konzerts. Tickets sind bereits beschafft, die Sprecherin wird in der ersten Reihe sitzen, um die Aktion zu filmen. Die beiden Hauptakteure haben Plätze am Rand des grossen Saals, im hinteren Bereich. Ein weiterer Aktivist wird von der Galerie aus fotografieren. Starke Bilder sind für die Klimaaktivisten essenziell. T-Shirts und Banner müssen sie gut sichtbar zeigen.
«Ich habe schon drei Nötigungen»
Lerch und Zufferey bestimmen, wie sie vorgehen; Bessire gibt Tipps. Etwa, sich nicht direkt an der Bühne anzukleben, «sonst beschädigt ihr das Holz». Auch den Zeitpunkt der Aktion müssen die beiden festlegen. Das Ziel: Aufmerksamkeit. «Die Leute sollen schliesslich über die Klimakrise nachdenken», sagt Lerch. Sie einigen sich auf die letzte halbe Stunde des Konzerts.
Die drei gehen mögliche Szenarien durch. Etwa: Falls Lerch und Zufferey auf dem Weg zur Bühne gestoppt werden. «Schreit eure Message und werdet schlaff», sagt Bessire. Regel Nummer eins der Bewegung: Der Widerstand ist gewaltfrei. Und was, wenn es kein Dirigentenpult gibt? Zufferey: «Dann kleben wir uns an den Notenständer.»
Und dann sind da noch die rechtlichen Konsequenzen: Mit Anzeigen wegen Nötigung und Sachbeschädigung müssen die Aktivisten rechnen. Abhalten kann sie das nicht. «Ich habe schon drei Nötigungen», sagt Lerch nüchtern. Und Zufferey: «Mir ist wichtiger, dass ich in 20 Jahren noch essen kann.»
Dann der letzte Punkt: der «Trust Circle». Nun stösst auch Voegtli dazu, der nach der Aktion vor dem KKL Flyer verteilen wird. Die vier legen einander ihre Arme um die Schultern. «Ich vertraue dir komplett, Anthony», sagt Lerch. Anthony lehnt seinen Kopf an ihren. «Ich vertraue dir, Selina.»
Auf dem Weg nach Luzern steigt die Nervosität. Zufferey sagt noch, er denke jeden Tag an die Klimakrise. Daran, dass die Welt brenne.
«Lasst sie reden!», ruft Jurowski ins Publikum. Der Dirigent hat sich schon öffentlich für Klimaanliegen stark gemacht. Er reagiert milde. Jurowski gibt den beiden die Hand, sie gehen von der Bühne.
Nach etwas mehr als fünf Minuten ist die Aktion gelaufen – und der Effekt erzielt: Interesse geweckt, Aufmerksamkeit erregt.