Auf einen Blick
Afghaninnen, die auf dem Markt zu laut sprechen, können im Gefängnis landen. Männer dürfen ihren Bart nicht zu kurz stutzen. So will es das neue «Tugendgesetz» der radikal-islamischen Taliban. Sie drängen damit Frauen und Mädchen immer weiter aus dem öffentlichen Leben, die Sittenpolizei ist allgegenwärtig. Und ausgerechnet jetzt eröffnet der Bund ein humanitäres Büro in der afghanischen Hauptstadt Kabul. «Gut für die Schweiz!», sagt Uno-Direktorin Kanni Wignaraja im Gespräch mit Blick in Bern.
Frau Wignaraja, wie geht es den Menschen in Afghanistan?
Kanni Wignaraja: Ihr Leben ist gerade nochmals bedeutend härter geworden. Das gilt vor allem für Frauen und Mädchen. Der Hälfte der Bevölkerung wird gesagt: «Bleibt drinnen, sprecht nicht, zeigt euch nicht im öffentlichen Raum!» Doch Afghaninnen und Afghanen finden Mittel und Wege, um zu überleben. Auch deshalb sind wir dazu verpflichtet, ihnen beizustehen.
Das tut die Schweiz. Sie kehrt in diesem Herbst mit einem humanitären Büro nach Kabul zurück.
Das freut mich natürlich. Man soll im Ausland Lärm machen und die Lage in Afghanistan scharf kritisieren. Gleichzeitig muss man aber auch vor Ort präsent sein. Das erleichtert die Zusammenarbeit mit lokalen Nichtregierungsorganisationen oder dem UNDP, dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen.
Wie hilft das der Zivilbevölkerung?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Wir unterstützen 75'000 Kleinstunternehmen, die sich im Besitz von Frauen befinden, mit monatlich rund 100 Dollar. Diese Frauen stellen weitere Personen an und ernähren auf diese Weise Tausende von Haushalten. Die Leute brauchen Arbeit, nicht Almosen.
In welchen Bereichen sind diese Frauen tätig?
Sie führen Schneidereien, machen Schuhe, verkaufen Lebensmittel. Nicht nur in den eigenen vier Wänden, sondern in kleinen Läden auf der Strasse. Weil sie das schon seit Jahrzehnten tun, ist es ihnen erlaubt. So können diese Frauen zusammenkommen, sich sozial engagieren und gemeinsam gegen die Isolation ankämpfen. Jedes Mal, wenn ich Afghanistan besuche, bin ich erstaunt, wie stark und widerstandsfähig die Menschen dort sind. Deshalb war es für die Vereinten Nationen und für mich immer klar, dass wir vor Ort bleiben. Wir lassen diese Frauen und Mädchen nicht im Stich.
Legitimiert Ihre Präsenz nicht das brutale Taliban-Regime?
So schwierig es ist: Man muss mit diesen Leuten sprechen, auch wenn man ihre Überzeugungen ablehnt.
Was erhoffen Sie sich davon?
Die Taliban hören zu – sie hören aber nicht auf uns. Trotzdem ist es besser, als zu schweigen. Wir fragen die Menschen im Land, was sie von uns erwarten. Niemand hat je geantwortet, wir sollten unsere Sachen packen und gehen – im Gegenteil. Mit unseren Projekten erreichen wir rund ein Drittel der weiblichen Bevölkerung. Es gibt keinen Grund, damit aufzuhören. Egal, was die Taliban sagen.
Zyniker könnten einwenden: Wenn sich der Leidensdruck verringert, begehrt die unterdrückte Bevölkerung weniger auf.
Die Menschen gehen nicht auf die Strasse, weil sie Hunger haben. Sie wehren sich, weil sie wütend sind und um die Zukunft ihrer Kinder bangen. Unterstützen wir diese Frauen, bleiben sie sichtbar. Mögen das zunächst nur kleine Schritte sein, so helfen sie doch bei der Selbstermächtigung: Wie kann es jemand wagen, eine Frau ihrer Identität zu berauben?
Kanni Wignaraja (60) stammt aus Sri Lanka und arbeitet seit mehr als 25 Jahren für die Uno, derzeit als Asien-Pazifik-Direktorin des Entwicklungsprogramms UNDP. Wignaraja hat einen Master in öffentlicher Verwaltung von der Princeton Universität in New Jersey, USA. Sie reist regelmässig nach Afghanistan, um sich direkt vor Ort ein Bild über die Lage zu machen.
Kanni Wignaraja (60) stammt aus Sri Lanka und arbeitet seit mehr als 25 Jahren für die Uno, derzeit als Asien-Pazifik-Direktorin des Entwicklungsprogramms UNDP. Wignaraja hat einen Master in öffentlicher Verwaltung von der Princeton Universität in New Jersey, USA. Sie reist regelmässig nach Afghanistan, um sich direkt vor Ort ein Bild über die Lage zu machen.
Sehen Sie Anzeichen, dass sich die Situation für Frauen verbessert?
In Afghanistan dürfen Mädchen nur bis zur 6. Klasse unterrichtet werden. Zugleich wollen die Taliban nicht, dass Männer Frauen medizinisch betreuen. Sie brauchen also Ärztinnen und Krankenschwestern. Dann frage ich: Wo in der Welt gibt es denn Ärztinnen ohne Schulabschluss? Eine Ironie des Schicksals könnte sein, dass bald alle afghanischen Frauen entweder Kleinstunternehmerinnen oder Ärztinnen sind.
Nicht nur in Afghanistan geht es der Bevölkerung schlecht. Der Bedarf an humanitärer Hilfe steigt weltweit, doch dafür steht immer weniger Geld zur Verfügung. Auch Bern spart bei der Entwicklungshilfe.
Die Schweiz muss sich die Frage stellen, was zielführender ist. Gerade im Asylbereich gilt: Verbessert sich das Leben der Menschen, werden weniger zur Flucht gezwungen. Wenn sauberes Trinkwasser weit oben auf der Prioritätenliste steht, reicht es nicht, Tanks einzufliegen. Es geht darum, Brunnen und Bewässerungskanäle zu reparieren. Das ist nachhaltiger, verringert das humanitäre Elend – und kommt letztlich günstiger.
Trotzdem hat der Nationalrat jetzt im Zusammenhang mit Gaza beschlossen, sämtliche Mittel für das Palästina-Hilfswerk UNRWA zu streichen. Was bedeutet das für die Menschen dort?
Ich kann diese Entscheidung nicht verstehen. Die Argumente der Politikerinnen und Politiker kenne ich nicht im Detail. Worüber ich aber gut Bescheid weiss, das ist die Arbeit der UNRWA. Sie ist die Lebensader für die Menschen in Gaza. Nicht nur jetzt, sondern bereits seit langem. Die Entscheidung der Schweiz könnte enorme Konsequenzen haben. Das Flüchtlingshilfswerk ist der Fels in der Brandung, der für die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen vor Ort zuständig ist. Investitionen in die UNRWA und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in Gaza sind ein Muss!