Das Aussendepartement (EDA) rät ausdrücklich von Reisen nach Afghanistan ab. Es bestehe das Risiko von Gefechten, Terroranschlägen, Raketeneinschlägen, bewaffneten Raubüberfällen, Entführungen und Vergewaltigungen, heisst es auf der Website des Bundes. Im Global Peace Index belegt das Land am Hindukusch den letzten Platz.
Trotzdem – oder gerade deswegen – zieht es die Eidgenossenschaft zurück in die Krisenregion. Angehörige des Schweizerischen Korps für humanitäre Hilfe (SKH) fliegen schon bald nach Afghanistan, um dort einen Aussenposten einzurichten. Léa Zürcher, Mediensprecherin beim EDA, bestätigt eine entsprechende Blick-Recherche: «Die Schweiz plant, im Sommer 2024 mit einem humanitären Büro wieder permanent präsent zu sein in Kabul.»
Mehr zu Afghanistan
In Afghanistan leben 43 Millionen Menschen, über die Hälfte sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Angesichts der prekären wirtschaftlichen Lage und der ernsten Menschenrechtssituation werde sich die Schweiz vorwiegend auf die humanitären Bedürfnisse der Not leidenden Bevölkerung konzentrieren, sagt Zürcher.
«Der Letzte kletterte über die Mauer»
Im Sommer 2021 zogen sich die USA und ihre Verbündeten aus Afghanistan zurück, die Taliban vollendeten die Rückeroberung des Landes. Auch im Schweizer Kooperationsbüro mitten in der Hauptstadt Kabul brach Hektik aus: Angestellte verbrannten Teile des Archivs und schalteten die Server ab. Walburga Roos, die erst vor kurzem die Leitung des Büros übernommen hatte, erzählte dem «Beobachter»: «Wir räumten die letzten Sachen, stellten Wasser und Strom ab und verliessen den Compound. Der Letzte kletterte über die Mauer, um das von innen verschlossene Gebäude zu verlassen.»
Drei Jahre nach der dramatischen Evakuierung wird die Schweiz nun also in das kriegsgeplagte Land zurückkehren. Die Vorbereitungen dafür laufen seit Februar 2022. Konkret wurde es letzten Herbst: Im September führte das EDA eine Abklärungsmission durch und machte eine Bestandesaufnahme des früheren Schweizer Kooperationsbüros. Eine zweite Mission folgte im November.
Das neue Büro soll am früheren Standort entstehen. Der Komplex liegt mitten in Kabul, wo vor der Machtübernahme der Taliban eine «Grüne Zone» existierte, schwer bewachte westliche Botschaften und Stützpunkte. Als 2017 bei der deutschen Botschaft eine Autobombe explodierte und 150 Menschen in den Tod riss, wurde auch das Schweizer Büro beschädigt, laut einem Bericht des EDA damals der «exponierteste Standort» des Schweizer Aussennetzes.
Keine Unterstützung für die Taliban
Die Sicherheitslage bleibe komplex, sagt EDA-Sprecherin Zürcher. «Die massiven Einschränkungen der Menschenrechte von Frauen und Mädchen und die Verfolgung von Minderheiten und Personen, die Kritik an den Taliban üben oder der früheren Regierung angehörten, schaffen ein Klima der Unsicherheit und Angst.» Die Sicherheit der Angestellten habe höchste Priorität; gewährleistet werde sie wie zuvor durch eine private ausländische Firma.
Die Taliban hätten den Entscheid der Schweiz zur Kenntnis genommen, sagt Zürcher. Die Abläufe gestalten sich dennoch kompliziert: Die Botschaft Berns im benachbarten Pakistan kündigt der dortigen Vertretung Afghanistans Schweizer Besuche jeweils in diplomatischen Noten an und fragt Treffen auf technischem Niveau an. «Die Kontakte zu den Taliban sollen sich auf notwendige diplomatische und logistische Prozesse beschränken, um vor Ort humanitär aktiv sein zu können», sagt Zürcher. Die Islamisten würden in keiner Weise unterstützt.
Unterstützung für IKRK oder Welternährungsprogramm
Für Afghanistan ist in diesem Jahr ein Budget von 24 Millionen Franken vorgesehen. Mit diesen Mitteln unterstützt die Schweiz verschiedene Partnerorganisationen im humanitären Bereich. Dazu gehören etwa das Welternährungsprogramm der Uno oder die Weltbank, die sich um die gesundheitliche Grundversorgung kümmert. Ebenfalls unterstützt werden das IKRK, deren Mitarbeitende afghanische Gefängnisse besuchen, oder eine afghanische Nichtregierungsorganisation, die sich zum Ziel gesetzt hat, Frauen auszubilden, die Opfer von häuslicher Gewalt beraten. Entwicklungsprogramme sind gemäss EDA nicht geplant. Das Büro in Kabul werde auch keine konsularischen Dienstleistungen übernehmen, so die EDA-Sprecherin: «Afghaninnen und Afghanen können Visumsgesuche weiterhin auf der Schweizer Botschaft in Islamabad einreichen.»
Seit Sommer gewährt die Schweiz afghanischen Frauen und Mädchen grundsätzlich Asyl. Der Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM) sorgte bei den rechten Parteien für Kritik. Im Januar und Februar befassen sich die Staatspolitischen Kommissionen beider Räte mit dem Thema. Sibel Arslan (43, Grüne), Vizepräsidentin der Aussenpolitischen Kommission des Nationalrats, begrüsst den Entscheid, nach Kabul zurückzukehren: «Die Menschenrechtslage in Afghanistan, insbesondere für Frauen und Kinder, ist prekär. Es ist deshalb gut und wichtig, dass die Schweiz wieder vor Ort mit einem Büro vertreten ist.» So werde man nicht mehr nur auf Informationen Dritter angewiesen sein. Und: «Wer stets steigende Flüchtlingszahlen kritisiert, müsste die humanitäre Arbeit, die das EDA in Afghanistan leistet, eigentlich befürworten.»