Das Staunen war gross, als BAG-Direktor Pascal Strupler (61) am Donnerstag vor die Medien trat: Erstmals seit dem Ende der ausserordentlichen Lage gab das Bundesamt für Gesundheit Empfehlungen zur Bekämpfung des Coronavirus an die Kantone ab.
Ein Warnschuss
Strupler forderte eine Ausdehnung der Maskenpflicht, die obligatorische Erfassung von Kontaktdaten in Restaurants und Bars sowie eine Obergrenze von 100 Personen in Ausgehlokalen. Wie eine regierungsnahe Quelle gegenüber SonntagsBlick betonte, haben die Empfehlungen eine gewisse Verbindlichkeit. Das BAG erwarte eine Reaktion auf die steigenden Fallzahlen – sonst seien auch flächendeckende Massnahmen denkbar: ein Warnschuss in Richtung der Kantone, die sich zögerlich und uneinig präsentieren. Allerdings ging der Schuss nach hinten los.
Zwar unterstrich Strupler die gute Zusammenarbeit mit den Kantonen und betonte das harmonische Verhältnis. Dann plötzlich stockt er, bricht ab, blickt zum obersten Kantonsarzt Rudolf Hauri (60) – und schweigt. Eine Blamage: Offenbar hat der Bundesvertreter den Namen des obersten Kantonsarztes vergessen. Schliesslich nennt Hauri seinen Namen selbst. Ein Seitenhieb auf Strupler. Die Kantone wüssten schon, was zu tun sei, folgt kurz darauf.
Mangelhafter Austausch mit den Branchen
Es ist nicht der einzige kommunikative Fehltritt des Bundes. Am Freitag gab das BAG gegenüber SRF erstmals Zahlen zu den bekannten Ansteckungsorten heraus – ohne Rücksprache mit den Branchen. Nicht einmal Stunden nach der Publikation wussten die kantonalen Gesundheitsdirektionen etwas von den Zahlen. Der Luzerner FDP-Ständerat Damian Müller (45) nervt sich: «Wenn die Kantone und der Bund sich so oft austauschen, wie sie behaupten, dann kann es nicht sein, dass Gesundheitsdirektorenkonferenz und BAG sich so oft über die Medien mit Neuigkeiten austauschen. Das sorgt für massive Verwirrung in der Bevölkerung.»
Die Statistik hat zwar gewisse Schwächen. Bei über der Hälfte aller Fälle ist unklar, wo die Ansteckung erfolgt ist, dies fliesst nicht in die Auswertung ein. Die Zahlen sind gleichwohl brisant: 42 Prozent aller Ansteckungen, die sich nachverfolgen lassen, werden auf Nachtclubs zurückgeführt. *
Clubs fühlen sich ungerecht behandelt
Dennoch fühlt sich die Club-Branche zu Unrecht an den Pranger gestellt. Alex Bücheli, Sprecher der Bar- und Club-Kommission: «Wir suchen seit Mai mit dem BAG das Gespräch, bisher ohne Erfolg. Statt sich darauf zu konzentrieren, Zahlen mit wenig Aussagekraft zu veröffentlichen, sollte man doch gemeinsam nach Lösungen suchen.»
Der Bund habe den Clubs jenseits des Normalbetriebs keine wirtschaftlichen Möglichkeiten aufgezeigt. Tatsächlich wurden die Kurzarbeitsentschädigungen auf Ende Mai ersatzlos gestrichen. Es habe keine andere Möglichkeit gegeben, als wieder zu öffnen, sagt Bücheli. «Man hat uns vor vollendete Tatsachen gestellt und lässt uns jetzt wie eine heisse Kartoffel fallen, anstatt gemeinsam mit der Wissenschaft zu versuchen, die Realität an Veranstaltungen besser zu verstehen.»
Roni Szepanski (37), Besitzer des Clubs Selig in Chur, sagt: «Wir sprechen von deutlich weniger als 50 Personen, die sich nachweislich in einem Club angesteckt haben.» Das sei bekannt, weil die Clubs die Kontaktdaten aufnehmen. «Doch wie viele Ansteckungen hat es im Coop oder im Fitnesscenter gegeben?» Das lasse sich nicht bestimmen, da Detailhändler keine Kontaktdaten speichern. «So werden die Clubs zu nationalen Sündenböcken gemacht.» Allerdings zeigt sich, dass sich in jüngster Zeit häufig unter 50-Jährige angesteckt haben – was weniger für Coop als Infektionsherd spricht als für den Ausgang. Der Kanton Genf verfügte daraufhin am Freitag die Schliessung der Clubs. Was dies bringt, muss sich noch zeigen.
Kontroverse Empfehlungen
Auch die übrigen Empfehlungen des BAG werden kontrovers diskutiert. Hinter vorgehaltener Hand ist der Verdacht zu hören, der Bund wälze Massnahmen auf die Kantone ab, die er selbst nicht durchsetzen konnte oder wollte. So schlug Gastrosuisse in Zusammenarbeit mit dem Bund in den Restaurants und Bars bereits Anfang Mai eine obligatorische Kontaktdatenangabe vor.
Kurz vor der Freigabe schritt der Datenschützer ein: Gastrosuisse musste zurückrudern und Angaben auf freiwilliger Basis einführen. Nun sollen es die Kantone richten. «Dieses Seilziehen ist weder neu noch überraschend», sagt der Arzt und Zürcher SP-Nationalrat Angelo Barrile (43). «Es ziehen zwar alle am gleichen Strick – aber nicht unbedingt in die gleiche Richtung.»
Auch die Ausweitung der Maskenpflicht stand bereits zur Debatte. Das BAG behauptete lange, Masken nützten wenig gegen eine Ansteckung. Nun werden die Kantone in die Pflicht genommen. Jürg Lareida (62), Präsident des Aargauischen Ärzteverbands: «Dass der Bund am Anfang gesagt hat, die Masken nützen nichts, ist ein Desaster.»
Struplers Inszenierung kommt schlecht an
Nationalrat Barrile findet: «Es wirkt schon ein wenig schräg, wenn das BAG öffentlich den Kantonen eine Maskenpflicht empfiehlt – und das in einer Medienkonferenz, wo man entsprechend Druck aufbaut. Offenbar ging das nicht im direkten Gespräch.» Barrile spricht an, was viele nicht öffentlich sagen wollen: Struplers Inszenierung kommt schlecht an. «Nach meinem Empfinden ist es nicht nötig, die Kantone aufzurütteln», sagt Lukas Engelberger (45), Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren. «Kein Kanton schläft.» Harmonie geht anders.
Doch auch unter den Bundesbehörden ist man sich offenbar nicht einig. So erklärte Pascal Strupler am Donnerstag, man sehe eine Zunahme bei den Infektionen nach Reisetätigkeiten. Die Rückkehrer seien noch strenger auf Einhaltung der Quarantänepflicht zu kontrollieren.
Minuten später gab das Staatssekretariat für Migration bekannt, künftig auch Personen mit einem Partner in der Schweiz einreisen zu lassen – sogar aus Hochrisikoländern. Verantwortlich für die Quarantänekontrollen bleiben die Kantone. FDP-Ständerat Müller fehlt die Koordination: «Für mich ist das ein Wirrwarr zwischen Bund und Kantonen. Es braucht ein koordiniertes Vorgehen für das Vertrauen der Bevölkerung.»
Widersprüche in den Empfehlungen
Peter Peyer (55, SP), Gesundheitsdirektor des Kantons Graubünden, sagt: «Es gibt tatsächlich Widersprüche in den Empfehlungen des Bundes, aber die Kantone haben die Verantwortung gewollt. Sie müssen jetzt auch damit umgehen.» Werden die Kantone die Empfehlungen des Bundes überhaupt umsetzen? «Das hängt von den Fallzahlen ab», sagt der Regierungsrat. «Wenn diese weiter steigen, wird eine Maskenpflicht in öffentlichen Räumen notwendig.»
Ob die Kantone in der Lage sind, solche Massnahmen koordiniert durchzusetzen, wird sich weisen. Der Vorstand der Gesundheitsdirektoren kann nur Empfehlungen aussprechen. Peyer: «In der Krise ist Föderalismus schwierig.»
Die Zeit drängt
Seit Struplers Auftritt stellt sich erneut die Frage der Verantwortlichkeit. Wäre es nicht besser, wenn der Bund nichts sagt – oder das Heft gleich wieder ganz in die Hand nehmen und die ausserordentliche Lage ausrufen würde? Für Peter Peyer steht ausser Frage: «Wenn sich die Situation weiter verschlechtert und die Kantone es nicht schaffen, sich rasch zu koordinieren, wird wohl der Bund wieder übernehmen.»
Klar ist: Die Zeit drängt. Die Fallzahlen steigen. Sind wir schon auf dem Weg in die zweite Welle? «Das ist eine Definitionsfrage», sagt Andreas Cerny (64), Virologe am Corona-Referenzspital Moncucco in Lugano TI. «Ich würde sagen Ja. Dies aufgrund der Erfahrung der ersten Welle, wo wir gesehen haben, dass in wenigen Wochen eine enorme Zunahme der Fallzahlen möglich ist, besonders wenn das Contact Tracing nicht mehr möglich ist.»
* Hinweis: Die im Artikel erwähnten Zahlen zu den Ansteckungen in den Clubs wurden von Seiten des Bundesamtes für Gesundheit am Sonntagabend korrigiert. Das BAG veröffentlichte am Freitag eine fehlerhafte Tabelle. Die Zahl der Ansteckungen in Clubs beträgt demnach nicht 42 Prozent, sondern 1.9 Prozent. Der Hauptansteckungsort sei demnach das familiäre Umfeld.
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