«Ich bin da, weil es den Ernstfall geben kann»
1:34
Zugführer Münger (20):«Ich bin da, weil es den Ernstfall geben kann»

Ukraine-Krieg verändert Einstellung von Schweizer Rekruten
«Bin bereit, mein Leben zu opfern»

Während in der Ukraine die Granaten fallen, trainieren Schweizer Rekrutinnen und Rekruten für den Ernstfall. Wie fühlt sich das an? Wir haben sie bei der Durchhalteübung besucht.
Publiziert: 29.10.2022 um 11:45 Uhr
|
Aktualisiert: 31.10.2022 um 08:09 Uhr
Lea Ernst (Text) und Philippe Rossier (Fotos)

Man könnte meinen, alles sei wie immer auf dem Hof in der Nähe von Kirchdorf im Berner Mittelland. Hühner gackern, die Herbstsonne taucht die Bäume in goldenes Licht. Saftige Äpfel warten auf ihre Ernte. Der Blick reicht weit über die Ebene des Gürbetals, dahinter ragen die Alpen wie eine graue Wand in den Himmel.

Da! Auf dem Heuboden bewegt sich etwas. Ein Fernglas schiebt sich hinter das Fensterchen. Auch das vermeintliche Gebüsch neben dem Stall bewegt sich – ein Tarnnetz, darunter Fahrzeuge versteckt. Aus dem Nichts taucht ein grünes Gesicht auf. Die Idylle täuscht: Dieser Hof ist ein geheimer Militärstützpunkt.

Die Augen der Armee

Der junge Mann tritt unter dem Tarnnetz hervor. «Wir sind hier, um zu sehen, ohne gesehen zu werden», sagt Leutnant Simon Münger (20). Schwarzes Béret, Pistole, Zugführer. Zur Raumüberwachung dringt seine Aufklärertruppe in feindliches Gebiet ein, versteckt sich an zivilen Standorten und liefert der Armee Informationen.

Mit 20 Jahren hat Zugführer Simon Münger bereits 30 Unterstellte.
Foto: Philippe Rossier

Münger stösst die Holztür zum Heuboden auf. Die Augen brauchen einen Moment, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Wie versteinert sitzt Andreas Hirschi (21) zwischen Heuballen und starrt durch das Fernglas. 24 Stunden am Tag beobachtet die Truppe das vorgegebene Stück Schweiz Richtung Westen. Eine Schicht dauert jeweils eine Stunde.

Der Späher im Heuboden: 24 Stunden am Tag beobachten Andreas Hirschi und seine Truppe den vorgeschriebenen Sektor im Westen.
Foto: Philippe Rossier

«Wir halten Ausschau nach Truppenbewegungen oder Waffenlieferungen des Gegners», sagt Hirschi. Der Baumaschinenmechaniker ist einer der 8159 Rekrutinnen und Rekruten, die diesen Juli mit der Rekrutenschule begonnen haben. Sein Feind trägt heute den gleichen Tarnanzug wie Hirschi.

«Egal welches Wetter herrscht, wir sehen alles»
0:34
Andreas (21) ist Beobachter:«Egal welches Wetter herrscht, wir sehen alles»

105 Rekrutinnen und Rekruten sind in die Übung involviert. Auf ihren Smartphones sehen sie täglich Bilder davon, was das Grauen des Krieges in der Ukraine anrichtet. Gleichzeitig trainieren sie für den Ernstfall. Wir besuchen heute die Durchhalteübung der Rekrutenschule, um herauszufinden, wie sich der Krieg auf den Alltag im Militär auswirkt.

Die Sicherheitsfrage erwacht aus dem Tiefschlaf

33 Jahre ist es her, dass mit der Berliner Mauer auch die bleierne Bedrohung fiel. Die Angst vor der Sowjetunion hatte die Armee der neutralen Schweiz zu einem Massenheer aus rund 600’000 Mitgliedern aufgebläht. Zum Vergleich: 2021 waren es noch knapp 148'000 Soldaten. Nur drei Wochen nach dem Mauerfall stimmte die Schweiz über die Abschaffung der Armee ab: Ganze 35,6 Prozent wollten in einem Land ohne Militär leben.

Andreas Hirschi ist einer von 8159 Rekrutinnen und Rekruten, die im Juli mit der Rekrutenschule begonnen haben.
Foto: Philippe Rossier

Das Image der Armee verschlechterte sich zusehends. Das Budget sank von inflationsbereinigt fast 6,5 Milliarden (1990) auf 3,9 Milliarden (2006), die Rekrutenschule galt in vielen Kreisen als langweilige Zeitverschwendung. Immer weniger Leute rückten ein, unter anderem, weil Dienstverweigerer ab 1996 nicht mehr zwangsläufig verhaftet wurden. Stattdessen wurde der Zivildienst ins Leben gerufen. Waren es 1996 noch 1148 «Zivis», leisteten 2010 bereits rund 23'700 Menschen den Ersatzdienst.

Die Aufklärerinnen und Aufklärer gehören zur Artillerie der Schweizer Armee. Auf diesem Bauernhof findet ihre Durchhalteübung statt.
Foto: Philippe Rossier

Mit dem Krieg in der Ukraine ist die Bedrohung aus dem Osten in die Köpfe zurückgekehrt, wie die Nachbefragung «Sicherheit 2022» des Bundes zeigt: 74 Prozent der Schweiz fordern eine vollständig ausgerüstete Armee – so viele wie nie zuvor. Nur noch 30 Prozent sind der Meinung, dass der Bund zu viel für die Armee ausgibt – mit einem Rückgang von zwölf Prozent der bis anhin tiefste je gemessene Wert.

Externe Inhalte
Möchtest du diesen ergänzenden Inhalt (Tweet, Instagram etc.) sehen? Falls du damit einverstanden bist, dass Cookies gesetzt und dadurch Daten an externe Anbieter übermittelt werden, kannst du alle Cookies zulassen und externe Inhalte direkt anzeigen lassen.

Die Frage nach der Sicherheit ist aus dem Tiefschlaf erwacht. Das Armeebudget ist in den vergangenen Jahren wieder angestiegen: Für 2022 wurden 5,14 Milliarden veranschlagt, bis 2030 sollen es gar sieben Milliarden werden.

Militärtheorie am Beispiel der Ukraine

Draussen blinzeln die grünen Gesichter in die Sonne. Ein Flugzeug dröhnt über den Hof. Sofort geht das Mutmassen los: «Eine F/A-18? Sicher für die Flugvorführung Axalp», sagt Münger. Der Zugführer blickt in die Berge. Wie fühlt es sich an, hier zu üben, während nur zweieinhalb Flugstunden weiter östlich bitterer Ernst gilt? Gegen einen Feind, der dem gesamten Westen mit der Vernichtung droht? «Bei einer Übung wie dieser reflektiere ich schon sehr häufig, ob ich gewisse Dinge im Ernstfall ebenso machen würde.»

Die Ukraine habe gezeigt, dass ein grossflächiger Krieg in Europa eben doch wahrscheinlicher ist als gedacht. Doch dass es zum Ernstfall kommen kann, sei Münger von Anfang an bewusst gewesen. «Sonst wäre ich nicht hier.»

Sehen, ohne gesehen zu werden: Die Aufklärertruppe dringt in feindliches Gebiet ein, versteckt sich an zivilen Standorten und berichtet der Armee.
Foto: Philippe Rossier

Wie die zivilen Ukrainerinnen und Ukrainer ihr Land verteidigen, beeindrucke ihn einerseits tief. Andererseits habe es ihm einmal mehr gezeigt, wie wichtig eine funktionierende Armee sei. Es gehe nicht nur um die Verteidigung der Landesgrenzen. Sondern auch darum, für die Menschen dahinter einzutreten.

Bei Zugführer Simon Münger haben sich seit Kriegsausbruch in der Ukraine mehrere Zivilistinnen und Zivilisten für seinen Dienst bedankt.
Foto: Philippe Rossier

Der Krieg habe Teilbereiche des Militärs verändert, sagt Münger. «In der Offiziersschule werden seit neuem viele Theorien an aktuellen Beispielen aus der Ukraine aufgezeigt.» Ihn persönlich beschäftigen vor allem die unzähligen Kriegsverbrechen, die in der Ukraine begangen werden: Phosphorbomben, Vergewaltigungen, Zivilisten und Kinder, die als menschliche Schutzschilde missbraucht werden.

Was Krisen mit Rekruten machen

Wie sich der Krieg in der Ukraine auf Militärangehörige der Schweizer Armee auswirkt, sei eine wichtige Frage, sagt Nadine Eggimann (40). Seit 2009 forscht sie an der Dozentur Militärpsychologie und Militärpädagogik an der Militärakademie der ETH Zürich (MILAK) zu Werten von Armeeangehörigen und zur Führungskultur in der Schweizer Armee. «Noch gibt es keine Daten dazu – aber wir nehmen an, dass sich der Ukraine-Konflikt besonders auf die Dienstmotivation von Rekruten niederschlägt.»

Nadine Eggimann forscht an der Militärakademie der ETH Zürich. Sie sagt: «Krisen erschüttern unsere Selbstverständlichkeit.»
Foto: Ueli Liechti

Krisen erschüttern Werte, die wir zuvor als selbstverständlich empfunden haben, sagt Eggimann. «Wir merken: Wenn ich mich jetzt nicht für meinen Wert einsetze, besteht die Gefahr, dass ich das gewohnte Gefühl der Sicherheit verliere und diesen Wert nicht bewahren kann. Das kann Angst auslösen.» Die Angst als Motivator. Ein angeborener Reflex, der uns ansporne zu überleben.

Zähneputzen mit Aussicht: Den Stützpunkt taktisch und technisch schlau zu wählen, ist Teil der Übung.
Foto: Philippe Rossier

Generell sei es auch so, dass Rekrutinnen und Rekruten nahezu alle Aufgaben motivierter ausführen, wenn sie den Sinn dahinter erkennen. «Werden sie daran erinnert, dass Krieg tatsächlich existiert, kann sich das für ihre Tätigkeit sinnstiftend anfühlen», so Eggimann.

Fabiano Loppacher hat beeinflusst, dass er täglich Bilder aus der Ukraine auf dem Smartphone sieht.
Foto: Philippe Rossier

Seit acht Monaten leistet die Ukraine erbitterten Widerstand. «Die Rekrutinnen und Rekruten sehen dabei, welchen Unterschied Werte wie Kameradschaft
und Zusammenhalt machen können.» Werte, die auch in Rekrutenschulen der Schweizer Armee vermittelt werden. Eggimann sagt: «Wenn die Rekruten das erkennen, erhält der Dienst an der Gemeinschaft einen neuen Stellenwert. Das motiviert.»

«Die Motivation hochzuhalten, ist die grösste Herausforderung»
1:07
Fabiano (20) ist Funker:«Motivation hochzuhalten, ist die grösste Herausforderung»

Wildfremde Menschen bedanken sich

Unten im Stall grunzten einst Schweine, jetzt schlafen dort die Rekruten auf dem Boden. Ein Team besteht normalerweise aus acht Aufklärern. Eine kleine Gruppe, die ohne jede Unterstützung überleben muss. Jederzeit sitzt jemand auf dem Beobachtungsposten, jemand am Funk, jemand hält Wache. Dauereinsatz, wenig Schlaf, unbekanntes Programm: Die Durchhalteübung ist eine Extremsituation. «Unter Belastung merkt man, wie die Leute reagieren», sagt Münger.

In der Ecke steht ein kleiner Holztisch. Fabiano Loppacher (20) beugt sich über das Funktelefon und kritzelt etwas auf ein Stück Papier. Von hier aus funkt er das, was vom Heuboden aus beobachtet wird, an die Kaserne in Thun. Die Motivation der Gruppe trotz wenig Schlaf und Dauereinsatz aufrechtzuerhalten, sei die grösste Herausforderung. Loppacher sagt: «Es sind schon lange Tage.»

Fabiano Loppacher funkt direkt aus dem ehemaligen Schweinestall an die Kaserne Thun.
Foto: Philippe Rossier

Ob die Übung den gelernten Polymechaniker auch an den Ernstfall denken lasse? «Klar, den simulieren wir hier ja.» Doch dass er täglich Bilder und Nachrichten aus der Ukraine sehe, von Panzern auf den Strassen und zerfetzten Gebäuden, habe zur Folge, dass sich der Einsatz ernster anfühle. Bereit, sein Leben zu opfern, sei er so oder so. «Deshalb bin ich hier.»

Weil die Nächte kurz sind, wird tagsüber nachgeschlafen.
Foto: Philippe Rossier

Dass das Militär seit Kriegsausbruch wieder mehr Zuspruch aus der Bevölkerung erhält, bekommt die Truppe zu spüren. Zugführer Münger erzählt: «In den vergangenen Monaten sind im öffentlichen Verkehr wildfremde Menschen auf uns zugekommen und haben sich für unseren Dienst bedankt.» Weder ihm noch seinen Kollegen sei das vorher jemals passiert. «Jetzt häuft sich das. Das ist schon motivierend.»

Die Ruhe vor der Feuerprobe

In der Durchhaltewoche steht die Truppe unter Dauerneinsatz. Jederzeit sitzt jemand auf dem Beobachtungsposten, jemand am Funk, jemand hält Wache.
Foto: Philippe Rossier

Hirschi klettert die Leiter vom Heuboden runter. Schichtwechsel. Bisher sei es ganz gut gegangen, trotz wenig Schlaf. Doch die Feuerprobe steht den jungen Rekruten erst noch bevor: der 50-Kilometer-Marsch in der zweiten Hälfte der Übungswoche. Münger macht sich keine Sorgen: «Wir sind gut vorbereitet.»

Der Ukraine-Krieg hat bei ihm und seinem Team mehr Seriosität ins Spiel gebracht. Zwei Mal hat Münger bisher weitergemacht, 62 Wochen dauert seine Ausbildung. Im November ist sie vorbei, zumindest vorübergehend. Eines Tages will er Militärpilot werden. Ob ihm Mutz, Tarnanzug und seine Rekruten fehlen werden? «Bestimmt», sagt er und lacht. Doch bevor es so weit ist, geht er erst einmal weit weg in die Ferien.

Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?