Überwachung. Big Brother. Spionage: Die SBB waren zuletzt heftigen Vorwürfen ausgesetzt. Die Kritik ausgelöst hatte ein Artikel des Magazins «K-Tipp», in dem es hiess, die Bahn wolle in Bahnhöfen Kameras mit Gesichtserfassung installieren, um das Kaufverhalten von Pendlern zu analysieren.
Die SBB wehrten sich gegen die Vorwürfe und betonten, mit dem neuen Kundenfrequenzmesssystem würden weder Personendaten erfasst, noch sei eine Gesichtserkennung geplant.
Vervielfachung der Zahl der Kameras
Recherchen von SonntagsBlick zeigen unabhängig von dieser Debatte: Die Videoüberwachung im öffentlichen Verkehr nahm in den vergangenen Jahren massiv zu. 2015 hatten die SBB in Zügen und Bahnhöfen 14'600 Kameras installiert, heute betreiben sie gemäss eigenen Angaben 24'400 Aufnahmegeräte.
Bei anderen Verkehrsbetrieben das gleiche Bild: Die BLS vervielfachte die Zahl ihrer Kameras in zehn Jahren von 630 auf 2880, die Rhätische Bahn von 95 auf 1723. In den Zügen der Südostbahn stieg die Zahl der Kameras seit 2017 von 380 auf 1910. Die Basler Verkehrsbetriebe haben in ihren Bussen und Trams mittlerweile 1622 Überwachungskameras installiert, die Verkehrsbetriebe Zürich 2688, Postauto rund 1200.
Pendlerinnen und Pendler sind demnach mit mehr als 36'000 Kameras konfrontiert – die Überwachungssysteme der vielen kleineren Transportunternehmen im Land sind dabei nicht einmal berücksichtigt.
SBB: Videokameras sind Standard
Die ÖV-Betriebe erklären die Zunahme mit dem Ausbau ihrer Angebote und Flotten, aber auch damit, dass Videokameras bei neuem Rollmaterial zum Standard gehören. Eine Sprecherin der SBB: «Videoüberwachung ist Bestandteil unseres Sicherheitskonzepts. Daher ist dies für uns ein wichtiges Element, um den Sicherheitsstandard in Zügen für unsere Mitarbeitenden sowie Kundinnen und Kunden weiter erhöhen zu können.»
Bei Übergriffen auf das Personal seien die Bilder wichtige Beweismittel einer allfälligen Strafanzeige, so die Sprecherin. Zudem helfe die Überwachung auch bei Notfällen, um sofortige Hilfe einzuleiten: «Betätigt jemand den SOS-Knopf im Zug, werden der Einsatzleitzentrale der Transportpolizei Bilder für die weiteren Hilfeleistungen übermittelt.»
Das klingt durchwegs positiv und sinnvoll. Doch nicht alle teilen diese Kamera-Euphorie. Francisco Klauser (45), Professor für politische Geografie an der Universität Neuenburg, forscht seit 20 Jahren zu den Auswirkungen von Videokameras im öffentlichen Raum und kommt zum Schluss: «Überwachungskameras machen die Gesellschaft nicht sicherer.»
Probleme werden verschoben
Insbesondere Straftaten im Affekt oder unter Alkohol- und Drogeneinfluss würden durch Kameras nicht verhindert, so der Experte. Auch nehme das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung nicht nachhaltig zu, nur weil in jedem Zug eine Kamera hänge.
«Mit Kameras werden die Probleme nicht gelöst, sondern einfach an einen anderen Ort verschoben», sagt Klauser. Bestes Beispiel dafür sei England, wo die Innenstädte fast flächendeckend mit Kameras zugepflastert worden seien – die Kriminalitätsrate sei dadurch aber nicht zurückgegangen.
Dass die Bilder von Überwachungsanlagen bei der Aufklärung von Gewalttaten hilfreich sein können, erkennt auch Klauser an. Das Problem sei aber, dass die Installation von Videokameras oft mit einem Personalabbau einhergehe: «In den Zügen zum Beispiel gibt es heute zwar mehr Kameras als früher, dafür weniger Zugbegleiter.» In Städten und Gemeinden wiederum gehe die Installation von Kameras häufig mit einer Reduktion der Polizeipräsenz einher. Klauser: «Das ist eine fragwürdige Entwicklung.»
Auch Städte und Gemeinden bauen aus
Dennoch werden in Städten und Gemeinden Überwachungskameras am Laufmeter installiert. Der Ablauf ist stets gleich: Irgendwo gibt es ein Problem mit Drogen, Gewalt oder Vandalismus – und eine Kamera soll die Situation verbessern.
Zwar gibt es keine Zahlen zur Anzahl von Kameras in der gesamten Schweiz. Auch in den meisten Kantonen ist die Datenlage mässig bis miserabel. Aber dort, wo verlässliche Zahlen vorliegen, geht der Trend klar nach oben: In den Kantonen Schwyz, Obwalden und Nidwalden zum Beispiel zählte der Datenschutzbeauftragte im Jahr 2012 190 Videokameras im öffentlichen Raum. Heute sind es 610.
Mehr Sicherheit durch Kameras?
In den Städten sind die Zahlen sogar noch beeindruckender: Basel registriert mittlerweile 1260 Überwachungskameras im öffentlichen Raum. In Zürich war bereits 2019 von 800 Kameras die Rede – und das nur bei den städtischen Schulhäusern.
Behörden sind wie die Betriebe des öffentlichen Personenverkehrs überzeugt davon, dass Kameras mehr Sicherheit bedeuten.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist das zwar umstritten. Klar ist aber, dass die Strafverfolgungsbehörden gerne – und immer öfter – auf die Flut der Aufnahmen zurückgreifen. 2016 erhielten die Bundesbahnen pro Monat erst 80 bis 100 solcher Anfragen. 2022 jedoch verlangten die Staatsanwaltschaften monatlich rund 200-mal Videomaterial – allein bei den SBB.