TV-Pfarrer Ruedi Heim im grossen Weihnachtsinterview
«Manchmal habe ich Lust, davonzulaufen»

Er war Stellvertreter des Bischofs von Basel, ist heute Pfarrer in Bern und spricht das «Wort zum Sonntag» bei SRF: Ruedi Heim (55) sagt, warum es die Weihnachtsgeschichte noch braucht, was den Missbrauch in der Kirche begünstigt und wie er zum Frauen-Priestertum steht.
Foto: Thomas Meier
TV-Pfarrer Ruedi Heim: Manchmal habe ich Lust davonzulaufen
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Rebecca WyssRedaktorin Gesellschaft / Magazin
Publiziert: 23.12.2023 um 17:06 Uhr
|
Aktualisiert: 30.10.2024 um 13:26 Uhr

Herr Heim, die meisten von uns haben über die Feiertage frei, Sie müssen arbeiten, ist das stressig?
Ruedi Heim: Es ist viel weniger schlimm als in anderen Jahren, ich habe früh mit den Vorbereitungen angefangen. Zu tun habe ich trotzdem. Ich bin zehn Tage hintereinander jeden Abend auswärts zum Essen. Mit Mitarbeitenden, befreundeten Paaren und Eltern, deren zwanzigjähriger Sohn ich vor drei Monaten beerdigt habe. Doch ich gewinne – im Vergleich zu anderen – Zeit, weil ich nicht für eine ganze Familie Weihnachten organisieren muss.

Die Leute essen sich in diesen Tagen pappsatt, reissen übermütig Geschenke auf und sind einfach nur froh, wenn der ganze Rummel vorüber ist. Frustriert Sie das?
Bis vor wenigen Jahren kam man an Weihnachten nicht vorbei. Heute kann man es ignorieren, ausser man hat Kinder. Ich war kürzlich in der Europaallee in Zürich, da heisst der Weihnachtsmarkt «Wintermarkt». Auf der Kleinen Schanze in Bern ist es der «Sternenmarkt». Sie wollen den christlichen Bezug vermeiden. Das finde ich seltsam.

Braucht es die Weihnachtsgeschichte heute noch?
Natürlich. Sie erinnert uns daran, das Kleine und Unscheinbare nicht aus den Augen zu verlieren. Nicht nur die Michelinmännchen, die sich gross machen, zählen. Gott drängt sich nicht auf, sondern kommt als Kind. Ich finde ihn dort, wo ich nicht damit rechne.

In einem abgelegenen Stall in Bethlehem?
Wichtige Dinge geschehen häufig im Verborgenen oder Dunklen. An Ostern passiert die Auferstehung nachts. Und die hochschwangere Maria war in Bethlehem nicht willkommen. Liebe ist immer nur ein Angebot, das ich annehmen kann oder nicht. Gott fährt nicht ein, und alle müssen ihm zustimmen. Doch diejenigen, die es tun, entdecken in der Weihnachtsgeschichte etwas fürs Leben.

Das «Wort zum Sonntag» im September fiel Ruedi Heim besonders schwer.
Foto: Thomas Meier

Die Zustimmung sinkt seit dem 12. September, als die Studie zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche bekannt wurde.
Das ist auch für mich schwierig. Die Bischöfe und andere Verantwortliche, die vertuscht und Täter auf andere Posten verschoben haben, kenne ich. Ich habe diese geschätzt.

Der Mann der starken Worte

Ruedi Heim ist ein Weihnachtskind. Er kam am 25. Dezember 1967 in Oberwil TG zur Welt. Findet aber nicht gleich in den Schoss der Kirche. Er studiert Medizin, bricht dann ab und wechselt zu Philosophie und Theologie in Freiburg und Rom. Später wird er für 14 Jahre Bischofsvikar des Bistums Basel. 2010 gilt er gar als Bischofskandidat. Heute ist Heim leitender Priester des Pastoralraums Region Bern, betreut die Pfarreien St. Antonius und St. Mauritius und ist Domherr des Bistums Basel. Seit 2022 spricht er jeden Monat auf SRF das «Wort zum Sonntag». Und fällt mit pointierten Aussagen zu den Missbrauchsfällen auf. Ruedi Heim lebt in Bern.

Thomas Meier

Ruedi Heim ist ein Weihnachtskind. Er kam am 25. Dezember 1967 in Oberwil TG zur Welt. Findet aber nicht gleich in den Schoss der Kirche. Er studiert Medizin, bricht dann ab und wechselt zu Philosophie und Theologie in Freiburg und Rom. Später wird er für 14 Jahre Bischofsvikar des Bistums Basel. 2010 gilt er gar als Bischofskandidat. Heute ist Heim leitender Priester des Pastoralraums Region Bern, betreut die Pfarreien St. Antonius und St. Mauritius und ist Domherr des Bistums Basel. Seit 2022 spricht er jeden Monat auf SRF das «Wort zum Sonntag». Und fällt mit pointierten Aussagen zu den Missbrauchsfällen auf. Ruedi Heim lebt in Bern.

Sind Seilschaften Teil des Problems?
Bis vor kurzem haben fast alle, die in einem Bistum gearbeitet haben, am gleichen Ort studiert. Das förderte wohl auch teilweise, dass man einander deckt. Und dass man sich nicht vorstellen kann, dass jemand, den man gut kennt, so falsch und verbrecherisch handelt. Ich habe mich gefragt: Wo bin ich blind oder taub?

Fühlen Sie sich mitverantwortlich?
Ja, ich bin Teil dieses Systems. Ich kann mich der Verantwortung nicht entziehen.

Gibt es Menschen, die Sie mitverantwortlich machen?
Ich bin nie persönlich angegangen oder angegriffen worden. Auch meine Mitarbeitenden nicht.

«Die Predigt ist noch nicht geschrieben»
0:42
Pfarrer Ruedi Heim:«Die Predigt ist noch nicht geschrieben»

In der Woche der Bekanntgabe sprachen Sie bei SRF ein starkes «Wort zum Sonntag»: «Seit letztem Dienstag verdrückt es mich körperlich fast. Mir ist schlecht, ich schlafe schlecht. (...) Wie muss das erst den Betroffenen und Familien gegangen sein.» Wie war es für Sie, in jenem Moment vor der Kamera zu stehen?
Ich wäre eigentlich gar nicht an der Reihe gewesen. Der Redaktor vom Fernsehen rief mich an jenem Dienstag an. Ich musste darüber nachdenken, ich hatte eigentlich gar keine Zeit. Doch ich dachte: Jetzt musst du hinstehen. Als wir die Aufnahmen machten, blieb ich immer wieder hängen. Ich brauchte sechs Anläufe, bis alles im Kasten war.

Gibt es Momente, in denen Sie dachten: Da mache ich nicht mehr mit?
Manchmal habe ich Lust, davonzulaufen, manchmal gurkt es mich sehr an.

Warum machen Sie weiter?
Ich habe eine Verantwortung. Wir müssen jetzt hinschauen, alles sauber aufarbeiten. Doch man muss den Scheinwerfer auch auf andere Orte richten. Kinderkliniken haben im letzten Jahr über 1200 Fälle von Misshandlungen und Missbrauch den Behörden gemeldet.

Es bringt jetzt nichts, auf andere zu zeigen. Das ist die katholische Kirche ihren 2,9 Millionen Mitgliedern in der Schweiz schuldig.
Ja, das ist der Preis, den wir jetzt zahlen müssen. Doch wir dürfen die Opfer nicht vergessen, sie werden an den Rand gedrängt. Man spricht nun von Zölibat, von Sexualmoral, von Bischöfen, die die Verantwortung nicht wahrnehmen – es geht wieder mal nur um die Täter.

Ein Treiber solcher Missbrauchsfälle ist nun einmal das Zölibat. Soll man es abschaffen?
Das Zölibat zieht teilweise Leute an, die eine unreife Sexualität haben. Doch damit ist das Problem nicht gelöst, sonst hätten wir keine Missbrauchsfälle in anderen Kirchen. Nächstes Jahr kommt in Deutschland eine Studie zu Vergehen in der evangelischen Kirche mit offenbar ähnlichen Zahlen.

Trotzdem: abschaffen?
Die katholische Kirche kann gut ohne Zölibatsverpflichtung funktionieren. Die Griechisch-katholische, die Teil der Kirche ist, tut dies bereits. Ich finde es aber problematisch, wenn man nur darauf fokussiert und wieder zuerst den Männern schaut.

Was stört Sie genau?
Die Frauen müssen hinten anstehen. Das halte ich für gefährlich. Gesamtkirchlich ist das Frauen-Priestertum nicht auf der Traktandenliste. Doch es wird Schritt für Schritt kommen. Vielleicht fängt es mit dem Diakonat an. So, jetzt kann man dem Ruedi Heim wieder Schläge geben und sagen: Der ist nicht mehr katholisch.

Gibt es oft Kritik?
Ich werde sicher das eine oder andere E-Mail bekommen. Mir schrieb mal jemand, ich solle reformiert werden, wenn ich nicht auf katholischer Linie stehe. Solche Rückmeldungen gehören dazu.

Was werden Sie nach all dem an Weihnachten predigen?
Ich werde die Missbräuche erwähnen. Hauptsächlich wird es aber wohl um die Dunkelheit gehen und um jene, die am Rand stehen.

Predigen Sie lieber in der Kirche oder vor der Kamera?
Ich habe die Kirche viel lieber, da habe ich ein Gegenüber. Da merke ich: Wo runzeln die Leute die Stirn, wo driften sie weg? Im Fernsehen habe ich keine Ahnung, wie es ankommt.

Früher war der Pfarrer eine Autoritätsfigur. Spüren Sie das heute noch?
Im Quartier kommt es vor, dass kleine Knöpfe sagen: «Schau, der Pfarrer.» Doch eine Autorität bin ich nicht. Ich kann den Leuten nicht ins Private oder Politische hereinreden.

Hat es nicht auch seinen Reiz, auf der Kanzel zu predigen?
Ich stand in 26 Jahren noch nie auf der Kanzel. Ich predige vom Ambo aus, dort, wo man in der katholischen Kirche aus der Bibel vorliest. Dieses Von-oben-herab, wenn möglich noch mit dem erhobenen Zeigefinger, kann ich mir nicht vorstellen.

Pfarrer Heim in der Dreifaltigkeitskirche in Bern.
Foto: Thomas Meier

Macht es Sie wehmütig, dass immer mehr Menschen aus der Kirche austreten? Rund 60’000 Reformierte und Katholiken waren es letztes Jahr.
Im Kanton Bern nehmen die Katholikenzahlen hauptsächlich wegen der Migration zu. Studien zeigen, dass bei der Kirche bis 2040 die Einnahmen zunehmen werden, danach kehrt es.

Was kann die Kirche dem Abfluss entgegenhalten?
Ein starkes soziales Engagement. Ohne Kirchen wird es kälter in der Gesellschaft werden. Die humanitären Organisationen und der Staat allein können das nicht auffangen. Wir geben auch wie niemand sonst auf grosse Fragen Antworten: Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Vielen Menschen fehlt das. Sie wollen hier und jetzt glücklich sein, wollen alles optimieren und sind gestresst. Wenn ich weiss, dass nach dem Tod noch etwas kommt, muss ich nicht alles aus der Zitrone des Lebens pressen.

Kommen noch Menschen mit ihren Alltagssorgen zu Ihnen?
Ja, wenn sie privat, psychisch oder finanziell anstehen. Auch als Seelsorger im Militär erlebe ich das. Die Männer kommen mit privaten Geschichten.

Warum gerade dort?
Männer halten mit ihren Gefühlen hinter dem Berg. Ausser, sie haben Bier getrunken. Im Militär, wenn sie ihre Uniform tragen, sind alle gleich. Sie stecken nicht in einer Rolle, die sie im Alltag ausfüllen. Es fällt ihnen leichter, sich zu öffnen.

Wie ist es mit dem Beichten, braucht es das noch?
Hundertprozentig sicher!

Als guter Katholik müssen Sie das sagen!
Bei der Dreifaltigkeitskirche mussten wir die Beichtzeiten ausweiten, weil immer mehr Menschen kommen. Besonders junge Männer zwischen 25 und 40 Jahren. Der Druck hat zugenommen, viele meinen, sie müssten funktionieren, und haben Mühe damit.

Dürfen Sie als Pfarrer darüber reden, wenn Sie selbst einmal nicht mehr weiterwissen?
Ich habe einen geistlichen Begleiter, einen Jesuitenpater und sehr gute Freundschaften. Manchmal mag ich aber gar nicht reden, da reicht es mir, in der Kirche zu sitzen und ganz allein für mich zu beten.

Über die Festtage hat Pfarrer Ruedi Heim einen vollen Kalender.
Foto: Thomas Meier

Macht Ihr Beruf manchmal einsam?
Das ist der schwierigste Teil vom Zölibat: Wenn ich nach Hause komme, ist nicht immer jemand da. Manchmal bin ich aber auch froh, wenn ich heimkomme und für mich bin. Ich weiss nicht, ob Sie sich trauen würden, das bei Ihnen zu Hause zu sagen.

Guter Punkt!
Deshalb sind für einen Pfarrer Freundschaften mit Paaren wichtig. Hat man das Gefühl, man würde lieber heiraten, sieht man dort, dass es nicht immer so einfach ist, eine Beziehung zu führen.

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