Seit knapp zwei Jahren können Psychotherapeuten ihre Therapieleistungen direkt über die Grundversicherung abrechnen. Zuvor mussten sie dafür bei einem Psychiater angestellt sein. Knapp 6000 Therapeuten machten sich seitdem selbständig. Der Systemwechsel soll die Versorgungsengpässe bei den Therapieplätzen reduzieren. Produziert hat das neue Modell bisher jedoch vor allem massiv höhere Ausgaben. Von einer Kostenexplosion zu sprechen, sei aber verfehlt, sagt Muriel Brinkrolf (48), Geschäftsführerin der Föderation der Schweizer Psychologinnen und Psychologen (FSP).
Frau Brinkrolf, die Psychologenverbände haben viele Jahre für die Selbständigkeit der Therapeuten gekämpft. Was hat der Systemwechsel konkret bewirkt?
Muriel Brinkrolf: Ziel war es, den Zugang zu Psychotherapien und deren Verfügbarkeit zu verbessern. Beim Zugang ist das bereits gelungen. Neu können Hausärztinnen Therapien anordnen, ähnlich wie Physiotherapien. Das funktioniert gut. Die Hürden für Betroffene, Hilfe zu suchen, sind deutlich gesunken.
Und die Therapieplätze?
Die Nachfrage ist nach wie vor deutlich grösser als das Angebot. Bei Kindern und Jugendlichen ist die Unterversorgung besonders akut. Unsere Mitglieder berichten von dringenden Fällen, die sie ablehnen müssen. Das ist hart, auch für die Therapeutinnen.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ein Vater suchte Hilfe, weil sein Kind an einer Essstörung litt. Doch er fand keinen Therapieplatz. Als dies Monate später endlich gelang, wollte das Kind nicht mehr mitmachen, sprach von Suizidgedanken. Wenn wir es nicht schaffen, solche Fälle unmittelbar zu behandeln, kann das fatale Folgen haben.
Schnelle Besserung ist wegen des Mangels an Fachkräften nicht in Sicht.
Wir können die Fachkräfte nicht herbeizaubern. Die Hürden für den Berufseinstieg sind hoch: Allein die Weiterbildung zum Psychotherapeuten kostet bis zu 70'000 Franken. Viele können sich das nicht leisten. Es wäre dringend nötig, mehr in die Fachkräfte zu investieren.
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Das hat der Bundesrat mit dem Systemwechsel getan: Die Kosten für Psychotherapie stiegen 2023 um rund 200 Millionen Franken. 100 Millionen kostet allein die Lohnerhöhung für die Therapeuten.
Ziel des Modellwechsels war nie, Kosten zu senken, sondern Hürden abzubauen und die Verfügbarkeit zu erhöhen. Im neuen Modell arbeiten die Psychotherapeutinnen selbständig und übernehmen mehr Verantwortung, auch für ihre Patienten. Der Beruf wird dadurch attraktiver, aber auch anspruchsvoller. Dass das im neuen Tarif abgebildet wird, ist nur logisch. Wenn nun vereinzelt von einer Kostenexplosion gesprochen wird, ist das völlig verfehlt.
Die Kosten sind immerhin um 35 Prozent gestiegen, wesentlich mehr Therapieplätze gibt es dennoch nicht.
Die 200 Millionen müssen im Kontext der gesamten Gesundheitskosten von gut 90 Milliarden gesehen werden. Mich stört, dass ständig nur über die Kosten gesprochen wird. In unsere psychische Gesundheit zu investieren, bringt enormen Nutzen – auch volkswirtschaftlich.
Erklären Sie!
Werden psychische Krankheiten frühzeitig erkannt und behandelt, können wir chronische Verläufe und stationäre Behandlungen verhindern. Die Menschen fallen nicht aus dem System und fehlen weniger am Arbeitsplatz. Studien zeigen klar: Investieren wir in frühe Erkennung und Behandlung psychischer Krankheiten, können wir viel Geld sparen. Tun wir es nicht, sind die Kosten wegen der Folgeschäden um ein Vielfaches höher.
Die Nachfrage nach psychischer Betreuung hat in den letzten Jahren konstant zugenommen. Geht es der Schweizer Bevölkerung psychisch immer schlechter?
Das ist schwer zu beurteilen. Wir haben multiple Krisen, Klimawandel, Pandemie, Kriege. Das hat vor allem auch bei den Jugendlichen Spuren hinterlassen. Gleichzeitig hat gerade die Covid-Pandemie dazu geführt, dass viel mehr über psychische Gesundheit gesprochen wird. Tabus werden aufgelöst, Prominente, Sportlerinnen oder Sänger, reden offen über ihre psychischen Probleme.
Trotzdem holt sich nur ein Drittel der Menschen mit psychischen Problemen professionelle Hilfe.
Wir sind noch lange nicht dort, wo wir sein sollten. In parlamentarischen Vorstössen wird Psychotherapie als Wohlfühlveranstaltung taxiert. Ehemalige Nationalrätinnen werden in den sozialen Medien angegriffen, weil sie von ihrer Essstörung berichten. Es braucht noch viel mehr Sensibilisierung.
Dabei ist das Thema «Mental Health» heute omnipräsent, auch in sozialen Medien. Setzen wir uns damit falsch auseinander?
Gerade in den sozialen Medien kursiert viel gefährliches Halbwissen. Influencerinnen, die nicht über das nötige Fachwissen verfügen, sprechen über psychische Krankheiten und Diagnosen. Das ist bedenklich.
Wenn Menschen mit grosser Reichweite auf Instagram oder Tiktok psychische Probleme zum Thema machen, motivieren sie Jugendliche, offener damit umzugehen.
Dass über die Wichtigkeit mentaler Gesundheit gesprochen wird, ist eine gute Entwicklung. Doch das reicht bei einer möglichen Erkrankung nicht. Habe ich Halsschmerzen, hole ich mir in der Apotheke Lutschtabletten. Wird es nicht besser, gehe ich zum Arzt. Bei psychischen Problemen sind die Grenzen oft undeutlicher.
Wir schauen zu lange zu?
Für Eltern ist es schwierig zu erkennen, ob ihr Kind unter einer Verstimmung leidet oder unter einer beginnenden Depression. Dabei braucht es noch mehr Hilfestellungen. Auch bei psychischen Problemen sollte klar sein: Verbessert sich die Situation nicht, lasse ich das beim Profi abklären.
Die Schweiz verfügt im internationalen Vergleich über eine hohe Dichte an Psychotherapeuten. Sind es nicht eher die präventiven Angebote, die forciert werden müssten?
Unbedingt. Bereits heute arbeiten längst nicht alle Psychologinnen in der Psychotherapie. Die Hälfte unserer Verbandsmitglieder ist zum Beispiel in der Arbeits- oder Schulpsychologie tätig. Die Förderung mentaler Gesundheit beginnt nicht mit einer Diagnose, im Gegenteil: Wir müssen mehr darüber nachdenken, wie wir es schaffen, dass Psychotherapien gar nicht erst nötig werden.