Vor einem Jahrzehnt ging ein Schreckgespenst um: der Sozialhilfe-Tourist – mittellose Menschen, die von einer Gemeinde in die andere ziehen – angelockt durch grosszügige Leistungen. Das Thema beschäftigte Lokalbehörden in ganz Europa; insbesondere Ausländer gerieten dabei ins Visier. Auch manche Gemeinden in der Schweiz schlugen Alarm, weil sie überdurchschnittlich viele Sozialhilfebezüger anzogen. Doch gibt es den Sozialhilfe-Tourismus wirklich?
Um dies zu beantworten, wertete ein Team um ETH-Professor und Migrationsforscher Dominik Hangartner (41) die Daten von Sozialhilfebezügern in den Jahren 2005 bis 2015 aus. Fazit: Es gibt keine nennenswerten Wohnungswechsel wegen Sozialhilfe – weder von Schweizern noch von Ausländern.
Sozialhilfebezüger ziehen zwar durchaus um. Doch erstens tun sie das weniger häufig als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und zweitens spielt die Höhe der Sozialleistungen dabei eine untergeordnete Rolle. Zentral für die Auswahl des neuen Wohnorts sind vielmehr tiefe Mieten. Und, im Falle von ausländischen Sozialhilfebezügern, die Präsenz von Mitbürgern, also von sozialen Netzwerken.
Gibt es Sozialhilfe-Touristen?
Um herauszufinden, ob es einen Sozialhilfe-Tourismus gibt, gingen die Forscher in ihrer kürzlich veröffentlichten Studie wie folgt vor: Sie berechneten, wie gross der maximale Gewinn beim Umzug von einer knausrigen in eine grosszügige Gemeinde ist. Pro Monat könnte ein Sozialhilfebezüger demnach 142 Franken zusätzlich erhalten – bei einem Grundbetrag von 977 Franken keine unerhebliche Summe (Stand 2015). Doch offenbar war das kein reales Motiv für einen Wohnortswechsel. Denn in Wirklichkeit erhielten Schweizer Bezüger nach einem Umzug im Schnitt lediglich 15 Franken, Ausländer 22 Franken mehr als zuvor.
«Angesichts der tiefen Beträge gehen wir nicht davon aus, dass die Menschen deswegen umziehen», sagt Hangartner. Denn die sozialen und finanziellen Kosten für einen Umzug seien bedeutend höher.
Ein Zusammenhang bestehe hingegen zwischen Sozialhilfequote und Mietpreisen einer Gemeinde: Tiefere Mieten führen dazu, dass sich dort mehr Sozialhilfebezüger niederlassen. Zudem ziehen die Betroffenen tendenziell von kleinen in grössere Gemeinden – ausländische Sozialhilfebezüger zudem am liebsten an Orte, wo bereits andere ihrer Nationalität leben. Das sind ebenfalls häufig grosse Städte.
«Diese Faktoren scheinen eine wichtigere Rolle zu spielen als die Höhe der Sozialhilfebeiträge», fasst Hangartner zusammen. Die zusätzlichen 20 Franken pro Monat seien demnach eher ein «Nebenprodukt» eines Wohnortwechsels.
Die Forscher sind auch der Frage nachgegangen, welche Folgen es hat, wenn eine Gemeinde ihre Sozialhilfebeträge senkt oder erhöht. Resultat: «Wir stellen keine nennenswerte Ab- oder Zuwanderung von Sozialhilfebezügern fest.» Das gelte sowohl für Inländer wie Ausländer.
Für Hangartner sind die Ergebnisse in ihrer Deutlichkeit überraschend. Das Urteil des Professors: «Es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, dass die Behörden die Beträge aus Angst vor Sozialhilfe-Tourismus senken sollten.»
Alle haben Anrecht auf Sozialhilfe
Just um diese Art von Tourismus zu verhindern, hat die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) Richtlinien erlassen. Diese sind allerdings lediglich Empfehlungen; die Höhe des Grundbedarfs ist häufig Gegenstand politischer Debatten. Manche Gemeinden empörten sich in den 2010er-Jahren über ein Urteil des Bundesgerichts, gemäss dem auch renitente Personen Anrecht auf Sozialhilfe haben – und traten aus der Skos aus.
Inzwischen hat sich die Aufregung etwas gelegt. Zwar gibt es weiterhin Kantone, die sich nicht an die Skos-Richtlinien halten. So geht der Kanton Bern beim Grundbedarf von deutlich tieferen Ansätzen aus als die restliche Schweiz (siehe Karte). Zudem haben manche Kantone wie St. Gallen oder Bern die Erhöhung aufgrund der Teuerung in den letzten Jahren nicht mitgemacht. Das sind aber Ausnahmen: 21 von 26 Kantonen übernahmen die aktuellen Richtlinien.
Skos-Geschäftsführer Markus Kaufmann (60) sieht sich durch die Ergebnisse der Studie bestätigt. «Wir konnten nie feststellen, dass die Leute alleine wegen der Höhe des Grundbedarfs umziehen.» Viele seien auch gar nicht sonderlich mobil, denn ein Drittel der Sozialhilfebezüger sind Kinder. «Diese will man ja nicht einfach aus der Schule reissen.»
Tiefe Zahlen
Dass die Debatte über die Sozialhilfe wieder abgeflacht ist, mag auch mit den sinkenden Zahlen zu tun haben. Laut Schätzungen der Skos fiel die Quote der Bezüger Ende 2022 auf unter drei Prozent – der tiefste Wert seit 20 Jahren.
Als Gründe nennt Kaufmann die gute Lage auf dem Arbeitsmarkt; aber auch die Tatsache, dass es manche Menschen gar nicht wagen, Sozialhilfe zu beziehen. Sei es, weil sie ihre Aufenthaltsbewilligung riskieren, sei es aus Scham.
«Das ist ein Problem», findet Kaufmann. Es sei nicht der Sinn der Sache, dass die Leute zu Hunderten für Gratisessen anstehen, wie das derzeit in manchen Städten geschehe. «Wir haben in der Schweiz ein System, um die Ärmsten aufzufangen. Genau dafür ist die Sozialhilfe da.»