Menschen fliehen aus der Manor-Filiale im Zentrum von Lugano TI. Der Schrecken ist ihnen ins Gesicht geschrieben. Es ist kurz vor 14 Uhr. Nahe der Kasse in der Multimedia-Abteilung des Kaufhauses greift plötzlich eine Frau zwei Kundinnen an.
Erst würgt die Angreiferin eines der Opfer, dann zückt sie ein grosses Messer und sticht auf die andere Frau ein. «Ich drehte mich um und sah eine Frau auf dem Boden und eine zweite auf ihr», sagt eine Zeugin gegenüber RSI. «Die unten schrie und zappelte mit ihren Armen, um sich zu verteidigen. Sie blutete stark. Die oben hatte ein riesiges Messer. Dann ging sie zu einer Verkäuferin, mit dem Messer auf sie gerichtet.»
Tatwaffe wohl aus Haushaltswaren-Abteilung entwendet
Sie ist nicht die Einzige, die das Drama miterleben muss. Während viele Kunden in Panik zu den Ausgängen rennen, packt ein Paar beherzt die Messerstecherin an den Haaren, hält sie fest, bis die Polizei eintrifft. Die Hand der Angreiferin hat noch immer die Tatwaffe umklammert, als die Beamten die Attentäterin verhaften. Das Tessiner Online-Portal «tio.ch» berichtete, die Täterin habe «sono dell'Isis» (dt.: «Ich bin vom Isis») gerufen. Dann hätten einige Leute Handtücher und Lumpen genommen, um die Blutungen der Verletzten zu stoppen, sagt die Zeugin zu RSI. «Ihre Kehle war praktisch ganz aufgeschnitten. Es war eine grausame Szene.»
Möglicherweise hatte die Täterin das Messer kurz zuvor in der Haushaltswaren-Abteilung des Kaufhauses geklaut, berichten Tessiner Medien. «Es war eines dieser langen Fleischmesser», sagt die Zeugin weiter zu RSI. «Das Etikett war immer noch dran. Wären mehr Kunden da, hätte es ein Massaker gegeben.»
Geschockt zeigt sich auch Manor-Sprecher Fabian Hildbrand (44). «Bei Manor sind wir sehr betroffen von dem gewalttätigen Übergriff und bedauern den Vorfall sehr. Den Verletzten wünschen wir gute Besserung und schnelle Genesung.»
Die Polizei bestätigt später, die Angreiferin sei eine Schweizerin mit Wohnsitz – und Sympathisantin der Terrormiliz Islamischer Staat (IS). Die 28-Jährige stammt aus Vezia TI, berichtet «Corriere Del Ticino». Sie ist mit einem Iraker verheiratet.
Täterin war polizeibekannt
Der Tessiner Regierungspräsident Norman Gobbi (43) sagte gestern Abend, man gehe davon aus, dass die Frau radikalisiert worden sei. «Die Situation ist von grösstem Ernst», so der Vorsteher des Tessiner Justiz- und Polizeidepartements. Falls sich die Vermutung bestätigen lasse, wäre der Kanton Tessin zum ersten Mal mit einem terroristischen Akt konfrontiert.
Die Täterin war polizeibekannt. Das Bundesamt für Polizei (Fedpol) schrieb am Dienstagabend in einem Tweet, dass die Täterin bereits aus einer polizeilichen Untersuchung aus dem Jahr 2017 in Bezug auf dschihadistischen Terrorismus bekannt ist. Die Polizeilichen Ermittlungen ergaben damals, dass sie sich über soziale Medien in einen dschihadistischen Kämpfer aus Syrien verliebte. Auch andere europäische Geheimdienste hatten sie auf dem Radar, berichtet «Corriere Del Ticino» weiter.
Die Frau habe damals versucht, nach Syrien zu reisen und den Mann zu treffen, teilt das Fedpol weiter mit. Sie wurde aber an der türkisch-syrischen Grenze von den türkischen Behörden angehalten – und in die Schweiz zurückgeschickt. Sie habe zu diesem Zeitpunkt an psychischen Problemen gelitten und wurde nach der Rückkehr in die Schweiz in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen. Seither sei sie nicht mehr in Ermittlungen mit terroristischem Hintergrund aufgetaucht.
Versuchte vorsätzliche Tötung, Verstoss gegen Terror-Gesetz
Auch Nicoletta della Valle, Direktorin der Fedpol, lässt sich via Skype zur abendlichen Pressekonferenz zuschalten. Sie bestätigt, dass von nun an die Bundespolizei und die Bundesanwaltschaft (BA) die Ermittlungen übernehmen. «Dieser Angriff überrascht mich nicht», sagte die Fedpol-Chefin zur Attacke. Und: Der Vorfall erinnere zudem an die Messerattacke von Morges VD. Dort war Mitte September ein Portugiese (†29) erstochen worden – auch hier prüft das Fedpol einen terroristischen Hintergrund des Attentäters.
Die Bundesanwaltschaft präzisiert am Mittwoch die Gründe für das Strafverfahren gegen die Angreiferin: Verdacht der versuchten vorsätzlichen Tötung und der schweren Körperverletzung sowie Verstoss gegen Art. 2 des Bundesgesetzes über das Verbot der Gruppierungen Al-Qaida und Islamischer Staat (IS). Die Frau sei festgenommen worden und befinde sich Untersuchungshaft, teilt die Bundesanwaltschaft gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA mit.