Jugendforschung ist in der Schweiz nicht sehr weitverbreitet. Aber einer, der sich mit Jugendlichen beschäftigt, ist Soziologie-Professor Sandro Cattacin. Das Gespräch mit ihm findet telefonisch statt, während er mit dem Zug an seinen Arbeitsplatz an der Universität Genf pendelt. Im Hintergrund sind passenderweise sehr laute Jugendliche zu hören.
Wie geht es den jungen Menschen in der Schweiz?
Sandro Cattacin: Nicht so gut. Schon vor Covid haben wir in der Eidgenössischen Jugendbefragung YASS beobachtet, dass depressive Tendenzen zunehmen. Krisen sind Beschleuniger – was diese und aktuelle Befragungen bestätigen: Wenn über 50 Prozent der jungen Erwachsenen sagen, sie seien psychisch stark belastet, zeigt das akuten Handlungsbedarf. Zumal wir ja noch nicht aus der Krise raus sind.
Das klingt düster!
Ja und nein.
Was soll daran nicht düster sein?
Die Forschung zeigt, dass hohe Depressionsraten auch die Ankündigung von gesellschaftlichem Wandel sein können. Die letzte soziale Bewegung, die die Schweiz bis heute prägt, ist die Jugendbewegung der 80er-Jahre. Jede grössere Stadt, ausser Lugano, wird heute mehrheitlich von Politikern regiert, die durch diese Zeit geprägt wurden – und jetzt in den Städten ihre Politik umsetzen, die aus liberaler Gesellschaftspolitik, Ökologie und einem dichten Netz von Sozialpolitiken besteht. Und raten Sie mal, was wir damals in den frühen 80ern unter den Jungen hatten: hohe Depressionsraten.
Sandro Cattacin (59) ist Professor für Soziologie an der Universität Genf. Er forscht unter anderem zu sozialen Bewegungen und ist einer der Mitherausgeber der Eidgenössischen Jugendbefragung YASS.
Sandro Cattacin (59) ist Professor für Soziologie an der Universität Genf. Er forscht unter anderem zu sozialen Bewegungen und ist einer der Mitherausgeber der Eidgenössischen Jugendbefragung YASS.
Gibt es einen Zusammenhang?
Wer Wandel will und ihn nicht erhält, wird wütend. Die Wut der heutigen Jugend richtet sich in sozialen Bewegungen wie der Klimajugend, «Black Lives Matter» oder auch #MeToo gegen aussen, also auf die Gesellschaft. Aber sie richtet sich eben auch nach innen, also gegen sich selbst. Die Folge sind der Anstieg von Depressionen. Nehmen Sie 1968 – auch dort hat es so begonnen.
Wie denn?
Da gab es natürlich einerseits die Wut gegen das Establishment und gegen die Konventionen, aber es gab auch die Musiker, die sich mit Drogen umbrachten – und von den Jugendlichen dafür gefeiert wurden.
Heute filmen sich Jugendliche auf Tiktok beim Drogenkonsum oder erzählen dort von ihren psychischen Problemen.
Die heutige Jugend lebt in der radikalsten Phase der Individualisierung der Menschheit. Sie sind sehr skeptisch gegenüber kollektiven Lösungen. Die Jugend will Lösungen, zu denen jeder Einzelne etwas beitragen muss. Greta Thunberg ist dafür ein perfektes Beispiel. Ihre Aussage ist: Seht, wie ich leide! Sie ist ein Beispiel für das, was ich Ego-Movements nenne.
Aber liegt der Grund für die psychischen Probleme der Jugend von heute nicht auch in einer zunehmenden Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg?
Nein. Die Alten haben Panik vor der Zukunft, die Jungen nicht. Die Jungen sind pragmatisch – und denken kaum je mehr als zwei Jahre in die Zukunft.
Und was ist mit Covid und dem Ukraine-Krieg?
Der Effekt von Covid auf die Befindlichkeit der Jungen ist gut dokumentiert. Er hat sie desorientiert. Zum Ukraine-Krieg gibt es noch keine Daten. Man muss aber kein Hellseher sein, um zu sagen: Die Brutalität des Krieges trägt zu einer weiteren Destabilisierung bei. Jugendliche sind unsere Zukunft. Aber sie müssen daran glauben, dass diese Zukunft ihnen gehört, sonst begehren sie auf.
Klimawandel, #MeToo, «Black Lives Matter»: Das sind alles linke Bewegungen. Aber es gibt nicht nur linke Jugendliche.
Natürlich nicht. Aber die Daten sind klar: Bis 2004 wurde die Jugend rechter, seither wird sie immer linker. Aber links heisst nicht unbedingt revolutionär. Klar ist: Die Jungen sind sehr empfindlich, was Angriffe auf das Empfinden und Wesen von Individuen angeht.
Was bedeutet das für die Zukunft?
Ich rechne damit, dass in zehn Jahren mehr Politiker als heute sehr sensibel auf Ungerechtigkeiten bei Themen wie Behinderung, Gender, Migration, Herkunft reagieren werden.
Was man gerade in den Diskussionen um kulturelle Aneignung merkt. Vielen Menschen geht diese Absolutheit der Woke-Bewegung zu weit. Was halten Sie davon?
Woke ist als Anstands- und Respektkultur in den USA entstanden. Jetzt ist der Begriff von der Rechten als Kritik angeeignet worden, was das Problem der Respektlosigkeit gegenüber Schwächeren natürlich nicht löst. Wir müssen lernen, in einer Gesellschaft zu leben, in der Verschiedenheit die Normalität und auch die Stärke ist. Dazu braucht es eine Respektkultur – und auch Zeit, Fehler und Konflikte.
Zurück in die Gegenwart. Muss die Politik auf diese Probleme der Jungen reagieren?
Ja, aber das tat sie bereits. Die stark ausgebaute Schweizer Suizidprävention hatte den Effekt, dass die Selbstmorde unter Jugendlichen in der Schweiz nicht zugenommen haben, obwohl die Suizidgedanken zunahmen. Aber es gibt Bereiche, wo wir noch hinterherhinken.
Wo?
Es braucht mehr niederschwellige Hilfe für Jugendliche. Für gewisse wären gleichaltrige Coaches hilfreicher als Psychologen. Die hören eher auf einen 19-Jährigen als auf einen Therapeuten. In Frankreich wurde ein Mentoring-Programm namens «grand frère» (dt. grosser Bruder) mit Erfolg getestet. In der Schweiz haben wir das verschlafen. Dabei wärs nicht mal teuer.
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