Die ukrainischen Soldaten hatten im Krieg ihre eigenen Zivilisten in Gefahr gebracht. So lautete das Verdikt von Amnesty International. Bei der Abwehr hatte die Armee Militärbasen unter anderem in besiedelten Wohngebieten errichtet – darunter auch in Schulen und Krankenhäusern – oder bedienten dort Waffensysteme. In insgesamt 19 Ortschaften sollen demnach Angriffe von bewohnten Wohngebieten aus gestartet worden sein.
Das Kriegsrecht aber verlange von Konfliktparteien, militärische Objekte so weit wie möglich entfernt von zivilen Einrichtungen zu platzieren, mahnte Amnesty.
Selenski sauer
Der Bericht der Menschenrechtsorganisation Anfang August sorgte für grosses Aufsehen. Wolodimir Selenski (44) warf der Organisation vor, sie habe damit «Opfer und Angreifer gewissermassen auf eine Stufe gestellt». Und die Leiterin des Ukraine-Büros, Oksana Pokaltschuk, hatte später ihren Rücktritt bekanntgegeben und beschuldigte Amnesty, russische Propaganda zu übernehmen.
Die Organisation verteidigte ihren Bericht. «Wenn wir Verstösse der Ukraine gegen das internationale humanitäre Völkerrecht feststellen, wie wir es in dem Fall getan haben, werden wir darüber ehrlich und genau berichten.»
Schweiz-Chefin versteht Reaktionen
Die Schweiz-Chefin der NGO, Alexandra Karle (55), sieht das gleich. «Das humanitäre Völkerrecht gilt für beide Seiten. Der Schutz der Zivilbevölkerung hat höchste Priorität. Auch die Ukraine muss sich Kritik gefallen lassen, obwohl sie sich gegen die russische Aggression verteidigen muss», sagt sie im Interview mit dem «Tages-Anzeiger».
Die ukrainische Armee hatte ihre militärische Basen nahe an Wohngebieten gebaut, obwohl es «Alternativen gegeben hätte», betont Karle. Aus dem Bericht geht hervor, dass der Grossteil dieser Stützpunkte kilometerweit von der Frontlinie entfernt gelegen habe.
Sie verstehe dennoch die heftigen Reaktionen. Die NGO stelle nicht infrage, dass Russland den Krieg zu verantworten habe. «Das hätten wir noch deutlicher erwähnen müssen.» Schlimm fände sie auch, dass Pokaltschuk hingeschmissen habe.
Amnesty weist Vorwürfe über Befragungen in Filtrationslagern zurück
Am Montag hatte das ukrainische Zentrum für strategische Kommunikation Amnesty vorgeworfen, für den Bericht Menschen in Gefängnissen oder sogenannten «Filtrationslagern» in den besetzten Gebieten interviewt zu haben. Infos, die auf diese Weise erhalten worden seien, hätten nicht verwendet werden dürfen, da sie von Menschen zur Verfügung gestellt wurden, die von russischen Kräften unter Druck gesetzt worden seien.
Amnesty hatte die Vorwürfe daraufhin bestritten. «Amnesty International weist diese Anschuldigungen, die jeglicher Grundlage entbehren und völlig falsch sind, kategorisch zurück», hiess es.
Die Organisation versichert, dass keine einzige der von ihr befragten Personen sich in russischen Gefängnissen, «Filtrationslagern» oder in den besetzten Gebieten befunden habe. Den Angaben zufolge habe die Organisation nicht einmal Zugang zu den von Russland besetzten Gebieten. Es seien ausserdem dieselben Experten involviert gewesen, die auch die Berichte über die russischen Kriegsverbrechen verfasst hatten. Auch Karle weist auf diese Berichte hin und sagt: «Es muss möglich sein, auch die Ukraine zu kritisieren!»
Amnesty will Entstehung von Bericht aufarbeiten
Nach der ganzen heftigen Kritik möchte Amnesty International den Entstehungsprozess des Berichts aufarbeiten. Dies berichtet die Deutsche Presse-Agentur am Samstag. Die Ergebnisse dieser Prüfung hätten eine hohe Dringlichkeit.
In der kommenden Woche sollen Details zum Ablauf der Prüfung vom Amnesty-Vorstand festgelegt werden, nachdem die verschiedenen nationalen Organisationen ihren Input geben konnten - unter anderem auch die ukrainische Amnesty-Organisation. (man/SDA)
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