Was genau ist in jener Nacht im Dezember 2021 in der Privatwohnung eines Anwalts passiert? Der Fall in Schaffhausen löste schweizweit grosse Empörung aus – und wirft nach wie vor Fragen auf.
Auf dem Video, das in der «Rundschau» von SRF gezeigt wurde, sind die Schläge von drei Männern gegen Fabienne W. (40) zu sehen.
Früherer Strafrechtsprofessor leitet Untersuchung
Der Schaffhauser Regierungsrat hat mittlerweile aufgrund der erhobenen Vorwürfe gegen die Strafverfolgungsbehörden eine externe Untersuchung angekündigt. Diese sollen das Vorgehen der Schaffhauser Polizei in dem Fall überprüfen.
Mit der Untersuchung beauftragt wurde der frühere Strafrechtsprofessor Andreas Donatsch. Sein Auftrag beschränkt sich ausdrücklich auf die Untersuchung des Vorgehens der Polizei.
Eine externe Beurteilung der Strafuntersuchung, und damit der Arbeit der Staatsanwaltschaft in dem Fall, würde die Urteilsbildung der Gerichte nach Ansicht des Regierungsrats unzulässig beeinflussen. Die Strafuntersuchung in dem Fall soll jedoch «zeitnah» abgeschlossen werden.
Warum kam es zu diesem Gewaltakt? Im Beitrag wird suggeriert, dass die Männer Fabienne W. in die Wohnung gelockt haben, um ihr Angst zu machen. Der Anwalt habe sie davon abbringen wollen, Anzeige gegen einen seiner Kumpel zu erstatten. Dieser soll Fabienne W. rund eine Woche vorher vergewaltigt haben. «Sie vermutet, es sei um Einschüchterung gegangen», heisst es bei SRF.
War die Einschüchterung von Anfang an geplant? Recherchen der «Schaffhauser AZ» bringen neue Details.
Das Protokoll des Schreckens
Der Zeitung liegen polizeiliche Akten, Protokolle und Videoaufnahmen aus dem Wohnzimmer des Anwalts vor. Zudem konnten die Medienschaffenden mit mehreren der mutmasslichen Täter sprechen. Es entstand ein Protokoll des Schreckens.
Fabienne W. wird an besagtem Abend von einem Freund eines Anwalts in dessen Wohnung gelockt. Die Frau kennt den Anwalt und war schon «ein paar Mal» in dessen Wohnung.
Der Anwalt (40) ist in der Stadt Schaffhausen bekannt. Er ist «eine schillernde Figur», heisst es im Artikel. Vor allem in der Partyszene soll er aktiv sein. Ende 2021 soll er ein grosses Alkoholproblem gehabt haben. Er war oftmals schon am Morgen betrunken. In seiner Wohnung sollen fast täglich Partys stattgefunden haben. Dies sei auch der Grund, weshalb er Videokameras in seinem Zuhause hat: Damit er kontrollieren kann, ob ihn Personen beklauen, während er nicht da oder bereits im Bett ist.
Zuerst ist Fabienne W. mit ihrem Begleiter alleine in der Wohnung. Später stossen der Anwalt und ein 22-jähriger Rumäne dazu. «Das Essen war super, und wir haben noch zusammen getrunken. Es war ein guter Abend», sagt W. später der Polizei. Dabei wird viel Alkohol getrunken.
Eine weitere Person kommt dazu. Ein Nachbar (58) von oben, ein ehemaliger Kampfsportler. Man tanzt, singt, grölt. In der Nacht verlässt Fabienne W. die Wohnung. Allerdings vergisst sie ihr Handy. Kurz vor 5 Uhr morgens kommt sie zurück.
Die Stimmung kippt plötzlich
Da kippt die Stimmung. Die «Schaffhauser AZ» schreibt von einer «Schlüsselstelle». Der Anwalt und der Nachbar sagen später der Polizei, Fabienne W. sei – nachdem sie zurückkam – «wie ein ganz anderer Mensch» gewesen.
Sie wurde «plötzlich forsch und blafft den Nachbarn an», heisst es. Was sie sagt, ist auf den Aufnahmen jedoch nicht zu verstehen.
Dann sagt der Nachbar von oben zu W.: «Weisst du, wer ich bin? Ich habe noch nie eine Frau geschlagen, ich habe Respekt. Hey Meitli, ich wollte dir heute helfen, für dich da sein.»
Fabienne W. schreit, sie weint. Sie wirft einen Stuhl durch die Wohnung. Dann bewirft sie den Nachbarn mit einem Glas, woraufhin dieser sie auf das Sofa wirft. «Sie hat keine Chance gegen mich!», soll er gerufen haben.
Derweil befürchtet der Anwalt, dass er aufgrund des Lärms seine Wohnung verlieren würde.
Fabienne W. geht ins Schlafzimmer. Dort gibt es keine Kameras, weshalb nur vermutet werden kann, was in diesen sieben Minuten im Zimmer vorgefallen ist. Doch die Stimmen sind zu hören. So soll der Nachbar gesagt haben: «Ich mach sie kalt.»
Die Männer wollen Fabienne W. nicht aus der Wohnung schmeissen, da sie befürchten, dass sie draussen zu viel Lärm machen würde.
Der Nachbar kommt auf die Idee, Fabienne W. anzubinden. Nach sieben Minuten kommen alle zurück ins Wohnzimmer. Die Frau und der Nachbar sind mit Handschellen aneinandergefesselt.
Dann kommt es zu den Szenen, die aus dem Beitrag der «Rundschau» bekannt sind: Der Nachbar würgt Fabienne W. «Zwei Minuten geht es, dann wirst du ohnmächtig, zwei Minuten. Glaub mir», soll er gesagt haben.
Fabienne W. wird geschlagen. Der Nachbar sagt: «Weisst du, wer ich bin? Ich bin der verdammte scheiss Killer! Ich bin ein Mann und du bist eine Muschi. Du hast vier Chancen gehabt, um alles richtigzumachen!»
Um 6.20 Uhr verlassen alle das Wohnzimmer. Der Anwalt und der Nachbar setzen sich an den Tisch. «Eigentlich muss ich mich ja schämen, eine Frau hier zu schlagen. Aber sie hatte ja die Chance aufzuhören», sagt der Anwalt.
Alkohol und Drogen im Blut
Draussen ruft der Begleiter, der Fabienne W. in die Wohnung eingeladen hat, die Ambulanz. Diese kommt in Begleitung der Polizei. W. wird ins Spital gebracht. Dort werden ihr 2,05 Promille Alkohol im Blut nachgewiesen. Auch Kokain wird in ihrem Blut gefunden. Die Ärzte stellen ein Schädelhirntrauma und Blutergüsse um die Augen fest.
Beim Nachbarn von oben werden 1,52 Promille Alkohol im Blut gefunden.
Diese Nacht passierte 12 Tage nach der mutmasslichen Vergewaltigung. Fabienne W. hat den Mann damals angezeigt. Dieser behauptete, der Sex sei einvernehmlich gewesen. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen ein. Eine Beschwerde von Fabienne W. aber ist hängig. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Fabienne W. wirft den Behörden vor, die Schläger mit Samthandschuhen anzufassen.