«Kartonteile sind geflogen und etwas ist explodiert»
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Ausschreitungen im Gericht:«Kartonteile sind geflogen und etwas ist explodiert»

Rocker, Gangs, Mafia
So tickt das organisierte Verbrechen in der Schweiz

Die jüngsten Ermittlungen der Zürcher Staatsanwaltschaft gegen die angeblich aufgelöste kurdische Rocker-Bande Bahoz zeigen einmal mehr, dass die organisierte Kriminalität auch in der Schweiz zu Hause ist. Wir stellen die wichtigsten Gruppen vor.
Publiziert: 29.07.2023 um 00:01 Uhr
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Aktualisiert: 29.07.2023 um 13:46 Uhr
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Sie sind in der Schweiz die Platzhirsche unter den Rockergangs: die Hells Angels.
Foto: keystone-sda.ch
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Myrte MüllerAussenreporterin News

Sie agieren in Gruppen. Sie sind hierarchisch organisiert. Sie sind gewaltbereit oder zumindest skrupellos. Und sie verwenden für ihr Gewinn- oder Machtstreben geschäftsähnliche Strukturen.

Oft kommen die Akteure aus dem Ausland oder dienen im Ausland lebenden Auftraggebern: Rocker-Clubs, Jugendgangs, Mafia-Clans oder internationale Kartelle plagen Bevölkerung, Polizei und Staatsanwaltschaft.

Die Rockergangs: Hier haben die Hells Angels das Sagen

Von der Bundespolizei Fedpol werden sie als Outlaw Motorcycle Gangs bezeichnet: Rocker-Clubs mit meist deutscher Herkunft. Eine Ortsgruppe der Hells Angels, Chapter genannt, gibt es in der Schweiz seit 50 Jahren.

Ebenso lange sind hier die befreundeten Broncos zu Hause. 2010 kam der Outlaw MC dazu. Ein Club-Ableger, der öffentlich kaum in Erscheinung tritt. Zusätzlich siedelten sich die Bandidos mit fünf Ablegern an. Eine Provokation für die Hells Angels.

Die Gruppen sind streng hierarchisch aufgebaut, verfolgen ihre eigenen Regeln. Sie sind international aufgestellt, mit grenzüberschreitenden Verbindungen. Ihnen werden Gewalt-, Vermögens- und Drogendelikte vorgeworfen.

Gewalttaten finden mehrheitlich innerhalb der Rockerszene statt. So kam es zwischen den Hells Angels, den Broncos und Bandidos im Mai 2019 in Belp BE zu einem Zusammenstoss mit Schusswaffen, bei dem drei Club-Mitglieder verletzt wurden. Im Frühsommer 2022 standen 22 Rocker deswegen vor Gericht. Der Hauptangeklagte, ein Bandido, wurde zu acht Jahren Knast verurteilt.

In der Schweiz eher still

«Während es in deutschen Städten wie Düsseldorf oder Berlin durchaus zu öffentlichen Machtdemonstrationen kommt, wollen die Chapter in der Schweiz eher unauffällig ihren Geschäften nachgehen», beobachtet Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.

«Über viele Jahrzehnte dominieren die Hells Angels in der Schweiz. Es gab wenig Anlass, Präsenz zu zeigen. Rivalitäten tauchten erst auf, als die Bandidos das Schweizer Territorium beanspruchten. Seit dem Prozess in Bern jedoch verhalten sich alle ruhiger.»

«Die Hells Angels beanspruchen für sich eine übergeordnete Stellung in der sogenannten Schweizer MC-Szene, die aus mehreren kleineren Clubs besteht», bestätigt auch Berina Repesa von der Bundespolizei Fedpol. Die meisten Rocker- oder rockerähnlicher Gruppierungen, die in den vergangenen Jahren versuchten, Ableger in der Schweiz zu etablieren, hätten sich wieder aufgelöst.

Rivalität zwischen Kurden und Türken

Ebenfalls aus Deutschland kamen 2016 die türkischen Osmanen Germania und ihre kurdischen Erzrivalen, die Bahoz. Gegen die Osmanen Germania, die den türkischen Langzeit-Präsidenten Erdogan unterstützen, wurde wegen Waffenschmuggel aus der Schweiz ermittelt.

Zudem drohte ein Rockerkrieg zwischen den ultranationalistischen Türken und den antifaschistischen Bahoz-Rockern, die sich in Zürich, Basel, St. Gallen und Schaffhausen angesiedelt hatten.

Offiziell lösten sich die beiden Banden vor sechs Jahren auf. Doch die Staatsanwaltschaft Zürich ermittelt nun erneut gegen 25 angebliche Bahoz-Mitgliedern wegen versuchter Tötung und Körperverletzung (im Blick). Hintergrund: Ein Kronzeuge packte aus.

Roma-Sippen und der Enkeltrick

Fast alle Kantonspolizeien kennen ihr Vorgehen: Die Betrüger rufen Pensionäre an, lügen Notlagen vor, schüchtern sie ein, bis die Rentner ihnen ihre Ersparnisse überlassen. Der sogenannte Enkeltrick ist eine Spezialität polnischer und rumänischer Familienclans. Erfunden hat ihn der polnische Roma-König Arkadiusz L.* (55), auch Hoss genannt. Sohn Marcin K.* (36) alias Lolli, ergaunerte von Schweizer Senioren über eine Million Franken.

2021 wurden in Bülach ZH zwei Rumäninnen der Prozess gemacht, weil sie von einem 96-Jährigen aus Nürensdorf ZH rund 150'000 Franken erbettelten. Vor wenigen Tagen wurde eine Polin (34) festgenommen, die in San Vittore GR eine 90-Jährige um einen fünfstelligen Geldbetrag und ihren Schmuck betrogen hatte. Die Enkeltrick-Betrügerin war auch im Tessin aktiv.

Jugendgangs auch in Schweizer Städten

Es gibt sie nicht nur in grossen Metropolen, sondern auch in der Schweiz: Jugendgangs, die sich etwa nach der Postleitzahl ihres Wohnorts nennen. Sie pöbeln Passanten an, randalieren, rauben und gehen auch schon mal mit Gewalt auf Rivalen anderer Stadtquartiere los.

2021 kam bei einer Messerstecherei zwischen zwei Vorstadtgangs in Biel BE ein 20-Jähriger ums Leben. Ein 21-Jähriger wurde schwer verletzt. Die Männer gehörten zu einer Jugendgang aus La Chaux-de-Fonds NE. «Der Anteil an Jugendlichen, die einer Gang oder Clique angehören, fällt mit knapp sieben Prozent etwas niedriger aus als der internationale Durchschnitt», sagt Dirk Baier.

Ein wichtiger Unterschied zum Ausland: In der Schweiz sind solche Jugendgangs nicht im organisierten Drogenhandel tätig – und deshalb weniger in tödliche Auseinandersetzungen verwickelt. Anders ist dies etwa in Schweden, wo 2021 neun Jugendliche wegen Mordes verurteilt wurden.

«Wir reden in der Schweiz von Gruppen vornehmlich männlicher Jugendlicher, die öffentliche Orte zu ihrem Gebiet erklären», sagt Baier. «Zuweilen haben sie Messer, andere Waffen hingegen eher nicht. Strassenschlachten, wie man beispielsweise in Malmö oder Stockholm gesehen hat, wären in der Schweiz nicht denkbar». Grund: Wegen ihrer geringen Grösse seien die Schweizer Städte überschaubarer, die Kontrolle über die Jugendlichen besser.

Mafia, tückisch wie ein Krebsgeschwür

Besonders gefährlich ist die italienische Mafia, besonders die 'Ndrangheta aus Kalabrien. Gewalt ist für sie nur das letzte Mittel – stattdessen setzen die Süditaliener auf Business und Zusammenarbeit. Das Resultat: Leise breitet sie sich wie ein Krebsgeschwür aus – in illegalen Geschäften, immer mehr aber auch in der legalen Wirtschaft. Längst fungiert die kalabrische Mafia wie ein globales Unternehmen.

Auch in der Schweiz ist sie äusserst präsent. Mit schätzungsweise 20 lokalen Mitgliederzellen ist die 'Ndrangheta in fast allen Kantonen vernetzt, während die kalabrischen Clans aus der Heimat regieren. Ihre Haupteinnahmequelle ist der europäische Kokainhandel. Die Schweiz nutzen sie zudem aufgrund der im Vergleich zu Italien lockeren Gesetze zur Geldwäsche und für den illegalen Waffenhandel.

Die Kommunikation verläuft zunehmend digital und verschlüsselt. Das erfordere viel mehr Analysearbeit, sagt Berina Repesa vom Fedpol. «Um die Mafia zu bekämpfen, braucht es auch die Zusammenarbeit zwischen den Polizeien und nichtpolizeilichen Akteuren. Auch der Informationsaustausch zwischen den Grundbuch- und Handelsregister-Behörden gewinnt im Kampf gegen die Mafia an Bedeutung.» Denn ihr Drogengeld wäscht die 'Ndrangheta gern, indem sie Immobilien kauft.

Sie kooperiert im internationalen Kokainhandel mit ebenfalls in der Schweiz vernetzten Balkan-Kartellen und der hier ansässigen nigerianischen Mafia Schwarze Axt sowie mit dominikanischen Banden.

Diese Entwicklung sei recht neu, sagt Bundesanwalt Sergio Mastroianni gegenüber Blick, «kriminelle Organisationen sind ein grenzüberschreitendes und dynamisches Problem.» Deshalb müssten viele Ermittlungshandlungen via internationale Rechtshilfe erfolgen, was die Ermittlungen nicht gerade beschleunige. Weiter sei es schwierig, Schweizer Mafia-Angehörigen ihre Rolle in der kriminellen Organisation vor Gericht nachzuweisen.

*Namen der Redaktion bekannt

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