Vor zehn Jahren hatte Angelika Kutzer (54) aus Arbon TG ein schönes Leben: Die Stelle als Aussendienstmitarbeiterin im Verkauf bereitet ihr Freude. Sie hat etwas Erspartes. Unternimmt viel mit Freunden. Schwimmt in Mexiko mit Delfinen – und geht ihrem Lieblingshobby, dem Tauchen, nach.
Mittlerweile ist Kutzer nur noch ein Schatten ihrer selbst. Sie hat stark Gewicht verloren, kann ihren Hals kaum mehr bewegen, hat keine Arbeit und kaum mehr soziale Kontakte. «Früher war ich ein heisser Feger, heute bin ich nur noch ein Wrack und stecke in finanziellen Nöten», sagt sie beim Blick-Besuch im November. «Und ich musste monatelang beim Sozialamt um Geld betteln.» Der Gipfel ihrer finanziellen Misere: Die Frau kämpft gegen Schulden. Denn das bezogene Geld muss sie dem Sozialamt zurückerstatten.
IV will keine Vollrente bezahlen
Die Mittfünfzigerin ist jedoch nicht in Geldnot, weil sie faul ist. Sie stellt klar: «Ich würde ja gerne arbeiten.» Aber: «Dafür bin ich körperlich zu stark eingeschränkt.» Trotzdem zahlt ihr die IV keine Vollrente. Stattdessen gibt es nur eine Viertelsrente von 500 Franken monatlich.
Angefangen hat Kutzers Martyrium mit einem Autounfall.
Sie ist damals Mitte 40. Bei dem Unfall erleidet Kutzer ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule. Mehr und mehr bekommt sie Probleme, bei der Arbeit zu stehen. Hals- und Nackenschmerzen plagen sie.
Halswirbelbruch!
Eine OP soll die Halswirbelsäule stabilisieren. «Doch die Schmerzen verschwanden nach dem Eingriff nicht», klagt Kutzer.
Es kommt noch schlimmer: Sie zieht sich eine neue Verletzung zu – Halswirbelbruch! Kutzer erklärt: «Höchstwahrscheinlich passierte es, als ich einen Gegenstand aus dem Auto hob. Da knackte es im Nacken und tat höllisch weh.» Erneute OP. Und wieder: Die Schmerzen bleiben.
Kutzer meldet sich bei der IV an und einigt sich mit ihrem Arbeitgeber, den Vertrag aufzulösen. Die IV-Gutachter diagnostizieren bei ihr ein chronisches Schmerzsyndrom und kommen zum Schluss, dass sie für den Verkaufsaussendienst voll arbeitsunfähig ist. Aber: In einer angepassten und leichten Tätigkeit wäre sie teils arbeitsfähig.
Darum spricht die IV Kutzer nur eine Viertelsrente zu. «Zu wenig», sagt die Leidgeplagte. «Mir geht es so schlecht – ich kann überhaupt nicht arbeiten.» Kutzer reicht Beschwerde gegen die IV-Verfügung ein. Sie betont: «Ich hatte mir auch eine Zweitmeinung bei einer renommierten Spezialklinik eingeholt.»
«Dauernd Kopfschmerzen»
Die Universitätsklinik Balgrist in Zürich kam im September 2022 bezüglich Kutzers Fall zum Schluss: «Wir schätzen die Arbeitsfähigkeit aktuell als nicht gegeben ein.»
Heute, gut ein Jahr nach dem Balgrist-Bericht, sei es nicht besser, sagt Kutzer. «Ich habe dauernd Kopfschmerzen. Dazu kommen Nacken- und Kieferkrämpfe.» Sie trägt oft eine Halskrause. Entfernt sie den Kragen, bekommt sie Sehstörungen.
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Etappensieg dank Gerichtsurteil
Wenigstens erlebte Kutzer in dieser ganzen Misere einen kleinen Erfolg. Das Thurgauer Verwaltungsgericht sprach ihr diesen August rückwirkend eine halbe Invalidenrente zu. «Meine Einsprache hat sich gelohnt. Ein Etappensieg», sagt Kutzer.
Ende November setzte die IV mit einer neuen Verfügung das Urteil um. Kutzers neuer Anspruch: 1006 Franken pro Monat – das Doppelte von der bisherigen Viertelsrente. Anfang Dezember erhielt die Thurgauerin das rückwirkende Geld von der IV sowie die Dezember-Rente. «Rund 12'500 Franken», sagt sie. «Mit diesem Geld stotterte ich meine Schulden ab. 2000 Franken bei der Steuerbehörde und 7300 beim Sozialamt.»
Trotz dieses Lichtblicks hofft Kutzer, dass sie eines Tages eine Vollrente bekommt. Sie fragt: «Wie schlecht muss es mir eigentlich gehen, damit ich diese bekomme?»
IV nimmt Stellung
Auf Anfrage von Blick antwortet der Thurgauer IV-Chef Andy Ryser, dass sich die IV-Stelle bei der Ermittlung des IV-Grads von Kutzer auf medizinische Gutachten stütze. «Das heisst auf Einschätzungen von Spezialisten.» Der IV-Chef stellt klar: «Weder die medizinische Fachstelle in ihrem Gutachten noch das Gericht in seinem Urteil haben eine umfassende Arbeitsunfähigkeit bei Frau Kutzer festgestellt.»
Keine guten Aussichten für Angelika Kutzer. Immerhin sorgte eine andere Behördenstelle kürzlich für ein Weihnachtswunder.
Das Fest der Liebe – Blick hilft
Kurz vor den Festtagen schickt Blick eine Anfrage ans Sozialamt. Einige Stunden später telefoniert Blick mit Reto Stacher, dem Leiter Soziales und Gesellschaft bei der Stadt Arbon.
Dann geht es plötzlich schnell. Am nächsten Tag erhält Kutzer einen Anruf von einer Mitarbeiterin des Arboner Sozialamts. «Sie sagte, ich hätte wegen meiner IV-Halbrente nun allenfalls Anspruch auf Ergänzungsleistungen», berichtet Kutzer. «Die müsste ich im Unterschied zur Sozialhilfe nicht zurückbezahlen.» Mehr noch: «Die Sozialarbeiterin behauptete, meine Schulden seien getilgt – und ich würde gar über 2000 Franken einbezahlten Überschuss zurückbekommen.» Angelika Kutzers Fazit: «Kaum schaltet sich der Blick ein, geht es blitzschnell.»
Reto Stacher widerspricht. Er sagt, man wäre auch ohne Blick-Anfrage aktiv geworden. Dass es ausgerechnet jetzt plötzlich schnell geht: reiner Zufall. Ausserdem habe man länger warten müssen, bis Kutzer ihre Unterlagen eingereicht habe. So oder so: Angelika Kutzer ist erleichtert, ob der finanziellen Entlastung. Was aber bleibt, sind die Schmerzen.