Auf einen Blick
- Thurgauer Pädo-Serientäter hat neue Frau trotz schwerer Straftaten
- Hybristophilie: Faszination für Gewalttäter, meist bei Frauen beobachtet
- Beziehungen können Wendepunkt sein: 30-jähriger Gefängniswärter berichtet über Erfahrungen
Ein leises Raunen geht am Dienstagmorgen durch den Saal am Bezirksgericht Frauenfeld TG. An der linken Hand des Pädo-Serientäters aus dem Thurgau, der sieben Kinder und acht Frauen teilweise unter Drogen misshandelt hat, blitzt ein goldener Ehering.
Der 39-jährige Miguel H.* ist seit längerem von seiner Frau geschieden – sie und die Kinder pflegen gemäss ihm keinen Kontakt mehr zu ihm. Verständlich: Auch die Kinder wurden mutmasslich unter Drogen gestellt, die Ex-Frau soll er ebenfalls misshandelt haben. «Ich schreibe immer und schicke Geld, aber ich bekomme nie Antwort», sagte er am Dienstag vor dem Richter.
Neue Frau hat keine Probleme mit seinen Taten
Die grosse Überraschung: Miguel H. hat eine neue Frau – das gibt er vor Gericht zu Protokoll. Sie habe kein Problem mit der Vielzahl an Straftaten ihres Ehemannes. Sie sei bereits vor dem Strafverfahren mit der Familie befreundet gewesen. Während er im Knast sass, habe sie angefangen, ihm zu schreiben. Danach hätten sie oft telefoniert, und sie besuchte ihn im Gefängnis.
Dieses Verhalten erinnert stark an das «Bonnie-und-Clyde-Syndrom». Schwere Straftäter können auf manche Menschen eine äusserst starke Anziehung haben. Warum aber verlieben sich Menschen in solche Täter?
Diese Frage beantworten kann Jérôme Endrass, Professor für Forensische Psychologie an der Universität Konstanz. Er spricht mit Blick über die «Faszination Gewalttäter» – und sagt Bemerkenswertes.
In der Fachsprache heisst das Hybristophilie
«Dieses Phänomen heisst in der Fachsprache Hybristophilie», sagt Endrass. Eine Faszination, eine Anziehung, eine Attraktivität, die von schweren Gewaltverbrechern ausgeht. «Berühmtestes Beispiel dafür ist wohl Ted Bundy», sagt Endrass. Bundy (†42) hat in den USA in den 70er-Jahren mindestens 30 Frauen entführt, vergewaltigt und getötet. Trotzdem flogen ihm die Herzen – und die Briefe – zu. Meist waren die Absender junge Frauen.
Überwiegend Frauen seien von der Hybristophilie betroffen, sagt Endrass. Die Gründe dafür seien so vielfältig wie die Menschen selber. «Für diese Frauen ist es attraktiv, mit jemandem zusammen zu sein, der etwas Aggressives hat, aber einen weichen Kern, den sie dann knacken könnten.» Oft würden die Straftäter ihre eigenen Taten «verklären», sie herunterspielen und verharmlosen. Bei Menschen, die sich ohnehin schon zu Gewaltverbrechern hingezogen fühlten, würden diese Erklärungen dann auf fruchtbaren Boden fallen.
Für viele unverständlich – für die Gesellschaft von grossem Wert
Die Hybristophilie beschreibe die Ansicht, dass der Partner wohl schlimme Sachen gemacht habe, so etwas aber der Partnerin nie antun würde und sehr lieb zu ihr sei. «Das macht die Beziehung so attraktiv», sagt Endrass. Anziehend sei die Vorstellung, dass man als Partnerin die seltene Fähigkeit habe, eine gewalttätige Person zu «bändigen».
Wie echt das Phänomen ist, erklärt Endrass mit Beobachtungen eines langjährigen Gefängniswärters, der über 30 Jahre Erfahrung im Dienst hatte: «Dieser berichtete, dass es für viele Männer im Gefängnis plötzlich einfacher geworden sei, eine Freundin zu finden. Es war inhaftiert leichter als draussen.» Allerdings sei die Hybristophilie nicht das einzige Motiv für Beziehungen zu Gefangenen, sondern nur eines von vielen.
In der Gesellschaft grösstenteils unbekannt sei der grosse Wert, den Partnerinnen von Gewalttätern hätten, sagt Endrass: «Eine Beziehung ist kriminologisch bewiesen ein grosser Wendepunkt in der Entwicklung von straffällig gewordenen Männern.» Solche Personen leisteten einen wichtigen Beitrag für die Gesellschaft, so Endrass. «Sie sorgen im Endeffekt dafür, dass Straftäter aufhören, Verbrechen zu begehen.»