Auf einen Blick
- Prozess wegen Mordes abgebrochen. Staatsanwaltschaft muss Anklageschrift überarbeiten
- Unstimmigkeiten in der Anklageschrift führten zu unerwarteter Wendung
- Gericht gab Staatsanwaltschaft 30 Tage Zeit für Überarbeitung
Was für eine Blamage für die Thurgauer Staatsanwaltschaft! Eigentlich hätte Visar H.* (44) am Dienstag vor dem Bezirksgericht Weinfelden TG der Prozess gemacht werden sollen. Die Anklage: Mord. Im April habe der Angeklagte seine Ehefrau Zana H.* (†39) in der gemeinsamen Wohnung in Erlen TG umgebracht. Nur: Weil die Anklageschrift unbrauchbar war, wurde die Verhandlung nach kurzer Zeit abgebrochen.
Das Publikumsinteresse an der Mord-Verhandlung war gross. Rund vier Dutzend Menschen wollten dabei sein, wenn Visar H. der Prozess gemacht wird. Die Verhandlung nahm aber gleich zu Beginn eine völlig unerwartete Wendung. Kaum wurde der Prozess eröffnet, wies der Richter auf Unstimmigkeiten und Widersprüche in der Anklage hin. So würde diese in wichtigen Punkten von den Aussagen des Angeklagten und dem Obduktionsbericht abweichen: «Nach unserer Meinung ist der Sachverhalt in der Anklageschrift falsch.» Die Anklage liess offen, ob das Opfer noch lebte, als der Angeklagte unter die Dusche ging, um sich das Blut abzuwaschen.
Ohne zu wissen, was genau passiert ist, sei es aber unmöglich, über den Fall zu urteilen. Handelt es sich um Mord, vorsätzliche Tötung – oder vielleicht 'nur' Totschlag?
Experte ist ratlos
Strafrechtsexperte Markus Oertle (64) ist baff. Er ist Rechtsanwalt und war bis 2022 Leiter der Staatsanwaltschaft für schwere Gewaltkriminalität im Kanton Zürich. Er kann sich den Abbruch der Verhandlung nicht erklären: «So etwas habe ich noch nie erlebt. Eigentlich ist gesetzlich eine Prüfung der Anklageschrift vor dem Verfahren vorgesehen, wenn die Sachlage beim Gericht eingeht.»
Für die Entscheidung zum Abbruch zeigt Oertle aber Verständnis: «Was das Strafmass angeht, unterscheiden sich die Straftatbestände Tötung, Totschlag oder Mord enorm. Bei einem Totschlag bewegt sich das Strafmass zwischen einem und fünf Jahren, bei Mord ist es meist lebenslänglich.»
Die Staatsanwaltschaft versuchte vor Ort noch, die Situation zu retten. Und sagte in einer Stellungnahme kurz vor dem Abbruch: «Die widersprüchlichen Aussagen hätten im Plädoyer thematisiert werden sollen.» Also ganz zum Schluss der Verhandlung. Man könne sich unterschiedliche Möglichkeiten vorstellen, die zum Tod geführt haben, so die Staatsanwältin.
Das Gericht liess das aber nicht gelten – schliesslich soll der Angeklagte vorab wissen, was ihm eigentlich vorgeworfen wird.
Harte Kritik an Anklageschrift
Die Verteidigerin von Visar H. nahm kein Blatt vor den Mund: «Als ich die Anklageschrift gelesen habe, bin ich erschrocken! Die Staatsanwaltschaft möchte mit dieser unbrauchbaren Anklageschrift das Strafmass nach oben jagen.» Anderthalb Jahre lang wäre «Tötung» der Vorwurf gewesen, so die Verteidigerin, erst auf der Zielgeraden – nach der letzten Einvernahme – wäre die Tat plötzlich zum «Mord» geworden. «Die Anklageschrift war schluddrig», so die schonungslose Kritik.
Weder sei die Vorgeschichte genügend gewürdigt worden (Zana H. soll ihren Mann betrogen haben) noch seien Arztberichte über den Angeklagten adäquat berücksichtigt. Dennoch verlangte die Verteidigung keine Präzisierung der Anklageschrift und war damit gegen einen Prozessabbruch.
Nachdem sich das Gericht zu einer halbstündigen Beratung zurückgezogen hatte, dann das klare Verdikt: Abbruch! Die Verhandlung wird sistiert und die Staatsanwaltschaft erhält 30 Tage Zeit, um nochmals über die Bücher zu gehen. Weder Staatsanwaltschaft noch Verteidigung wollten gegenüber den Medien Stellung nehmen.
Die Staatsanwaltschaft hat vorerst dreissig Tage Zeit, die Anklageschrift anzupassen. Wann der Prozess weitergeht, ist zurzeit unklar.
* Namen geändert