Auf einen Blick
- 2023 wurden in der Schweiz 20 Frauen und Mädchen getötet
- Neues Buch beleuchtet Männergewalt an Frauen
- Autorinnen fordern, dass Männer einander in die Verantwortung nehmen
Der Fall von Gisèle Pélicot erschüttert derzeit die ganze Welt. Die 72-jährige Französin wurde während fast eines Jahrzehnts von ihrem damaligen Ehemann immer wieder sediert und von ihm und Dutzenden anderen Männern vergewaltigt. Er und über 50 Männer stehen derzeit in Avignon vor Gericht.
Anfang September wurde die ugandische Olympia-Läuferin Rebecca Cheptegei (†33) von ihrem Partner mit Benzin übergossen und angezündet. Sie starb an den Folgen ihrer Verletzungen.
14 Femizide im laufenden Jahr
Männer, die vergewaltigen. Männer, die töten. Es sind fast immer Männer, die Gewalt ausüben. Auch in der Schweiz. 13 Männer haben in den ersten neun Monaten des laufenden Jahres laut dem Rechercheprojekt «Stop Femizid» hierzulande Frauen getötet. So wurden im September Details eines Femizids bekannt, der im Februar in Binningen BL begangen worden war: Ein Ehemann soll seine Frau erwürgt und zerstückelt haben. Sie wurde 38 Jahre alt. Ein weiterer Fall kam vergangenes Wochenende hinzu: Ein Mann erstach in Bülach ZH seine Ehefrau vor dem Hauseingang.
Laut Zahlen des Bundesamts für Statistik wurden im vergangenen Jahr 20 Frauen und Mädchen getötet. Dazu kommen 42 versuchte Morde an Frauen. In der Schweiz werden pro Monat also ein bis zwei Frauen umgebracht. Die sexualisierte Gewalt nimmt zu. Täter sind meist Ehemänner, Partner oder Ex-Partner. Aber warum werden Männer zu Tätern von häuslicher oder sexualisierter Gewalt? Und warum töten sie? Diesen Fragen sind die Journalistinnen Miriam Suter (36) und Natalia Widla (30) in ihrem soeben erschienenen Buch «Niemals aus Liebe. Männergewalt an Frauen» nachgegangen.
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Fokus auf Täterschaft
Es ist nicht das erste Mal, dass die beiden zusammenspannen: Im Buch «Hast du Nein gesagt?», das 2023 erschienen ist, schrieben sie über den Umgang des Schweizer Justizsystems mit Opfern sexualisierter Gewalt. «Damals lag unser Fokus auf den Betroffenen», sagt Miriam Suter. «Aber um solche Taten zu verhindern, müssen wir verstehen, warum sie geschehen und wer die Täter sind.»
Um in ihrem zweiten Buch die Täterseite zu beleuchten, haben Widla und Suter Gerichtsprozesse besucht, das Bekennervideo eines Täters gesichtet und Angehörige von Femizid-Opfern getroffen.
Den einen Täter gibt es nicht
Und sie haben mit Fachpersonen aus Justiz, Politik oder Psychologie gesprochen. Unter anderem mit Bundesrat Beat Jans, mit der forensischen Diagnostikerin Nahlah Saimeh, der Opferanwältin Lea Herzig oder dem Psychologen und Männeraktivisten Markus Theunert. Das Buch enthält Protokolle aus Gerichtssälen und Betroffene, aber auch Täter kommen zu Wort.
Klar ist: Es gibt nicht den einen Täter. Die meisten Täter partnerschaftlicher Gewalt sind eifersüchtig, haben ein ausgeprägtes Kontrollverhalten und ein patriarchales Rollenverständnis. Oftmals führen auch biografische Brüche zu Gewalttaten. Genauso können aber Männer, die zuvor nie gewalttätig waren, zu Femizid-Tätern werden. Es gibt also nicht den einen Faktor, der einen Mann zum Täter macht. Suter sagt dazu: «Wir leben in einer Welt, die sehr opfer- und frauenfeindlich ist, in der Männer das Gefühl haben, dass Frauen ihnen gehören. Gewalt an Frauen wird also sehr fest begünstigt.»
Mehr Geld für Schutz von Frauen
Im Buch werden auch verschiedene Anlaufstellen für Täter, wie Beratungs- und Therapiestellen und Lernprogramme, beleuchtet. Mehrere Fachpersonen, die zu Wort kommen, betonen, dass Täterarbeit Opferschutz sei. Auch Suter sagt: «Wir müssen bei den Tätern ansetzen, schliesslich geht die Gewalt von ihnen aus.» Das sei die beste Gewaltprävention.
Das Buch endet mit Empfehlungen, wie Männergewalt an Frauen verhindert werden kann. Unter anderem sollen Bund und Kantone mehr Geld in den Schutz von Frauen investieren. «Ohne zusätzliche Mittel und mehr Schutzunterkünfte wird es weiterhin überbelegte Frauenhäuser geben. Und das kostet Frauenleben», sagt Suter.
Einer der wichtigsten Punkte sei aber der letzte: das gemeinsame, gesellschaftliche Umdenken. «Wir brauchen die Männer», sagt Suter. Sie beschreibt das Bild des aktuellen Gerichtsprozesses um Gisèle Pélicot: Auf der Anklagebank sitzen nur Männer, während vor dem Gericht fast nur Frauen stehen, die das Opfer unterstützen. Sie fordert, dass Männer aktiv mitarbeiten, indem sie untereinander über diese Themen sprechen und einander zur Verantwortung ziehen. «Männer müssen sich bewusst werden, dass sie Teil der Lösung sind.»
Miriam Suter und Natalia Widla, «Niemals aus Liebe. Männergewalt an Frauen», Limmat Verlag.