Wettlauf gegen den Bergrutsch
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Wettlauf gegen den Bergrutsch:12-Mio-Tunnel soll Bündner Bergdorf Brienz retten

Ein 12-Millionen-Tunnel ist die letzte Hoffnung für das Bündner Dorf Brienz
Wettlauf gegen den Bergrutsch

Die Zukunft des Rutschdorfes Brienz entscheidet sich in den nächsten Monaten. Ein 12-Millionen-Tunnel soll den Bündner Bergort vor seiner Zerstörung retten. Blick war mit Experten vor Ort.
Publiziert: 08.06.2021 um 09:53 Uhr
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Aktualisiert: 08.06.2021 um 11:31 Uhr
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Bedrohtes Brienz: Wegen einem grossen Hangrutsch und Bergsturzgefahr steht das 100-Seelen-Dorf in der Albula-Region vor einer unklaren Zukunft.
Foto: Siggi Bucher
Marco Latzer

Es sind im wahrsten Sinne bewegende Zeiten für das Dorf Brienz/Brinzauls GR und seine etwas mehr als 100 Einwohner. Der ganze Ort in der Albula-Region rutscht derzeit um rund 1,6 Meter pro Jahr talwärts. Zu allem Überfluss hat der äusserst regenreiche Mai die Situation noch einmal zusätzlich verschärft (Blick berichtete).

«Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit», sagt Geologe Stefan Schneider (47), der auch den Frühwarndienst für eine allfällige Evakuierung von Brienz verantwortet. «Lange Zeit ist das Dorf rund zehn Zentimeter pro Jahr abgerutscht. Erst in den letzten fünf Jahren hat es sich dramatisch beschleunigt.»

Leitungen verformten sich innert kürzester Zeit

Viele Gebäude sind mittlerweile von tiefen Rissen gezeichnet. Ein Stall und ein Wohnhaus mussten zwischenzeitlich schon abgerissen werden. Im März waren deswegen auch zwei Wagen der Rhätischen Bahn entgleist, weil sich die Gleise verbogen hatten.

Auch die neue, ebenerdige Strom- und Wasserleitung ist schon deutlich gezeichnet. Die darüber verlegten Holzlatten biegen sich handorgelartig auseinander. «Die Leitungen befinden sich auf einer heiklen Schnittstelle zwischen rutschendem und nicht rutschendem Gebiet. Die Gemeinde hat deshalb einen Kanal erstellt, um die Leitungen möglichst lange schadenfrei zu halten», so Andri Largiadèr (41), Projektleiter beim Bündner Amt für Wald- und Naturgefahren.

Zwei grosse Sorgen plagen Brienz

Er fügt an: «In Anbetracht der Geschwindigkeit gleicht es einem Wunder, dass praktisch noch keine Häuser abgerissen werden mussten!» Trotzdem ist die Lage inzwischen so ernst, dass der Kanton eine halbe Million Franken für eine Umsiedlungsstudie gesprochen hat.

Brienz ist nämlich doppelt bedroht: Während der Ort jährlich um anderthalb Meter abrutscht, schiebt sich der Berg darüber seinerseits mit bis zu acht Metern pro Jahr dem Dorf entgegen. Ergebnis: akute Steinschlaggefahr!

Das Knirschen abbröckelnder Felsmassen ist allgegenwärtig, immer wieder brechen tonnenschwere Steinbrocken ab. Das Problemgebiet wird mit einer Vielzahl von Messgeräten dauerüberwacht. «Der Hang rutscht wie ein Kuchen ein schräges Backblech hinab», so Geologe Schneider.

Wasser ist der grosse Gegner

«Wenn sich der ganze Berg auf einen Schlag lösen würde, wären das etwa 22 Millionen Kubikmeter an Gestein. Derzeit rutscht aber vor allem eine ‹Insel› vorneweg. Bricht diese ab, hätten die nahe am Hang gelegenen Häuser ein Problem», so Schneider weiter. Solche Katastrophenszenarien seien in naher Zukunft aber wenig wahrscheinlich. Und falls doch, würden sie sich wohl Tage oder Wochen im Voraus andeuten.

Nach allem, was man weiss, spielt Wasser sowohl für die Bergsturzgefahr als auch für den ganzen Rutsch eine entscheidende Rolle. Um das Sickerwasser zu reduzieren, wurde auf dieses Frühjahr hin das alte Entwässerungssystem am Berg grundsaniert.

Die Zukunft von Brienz hängt von einem Tunnel ab

Und aus demselben Grund starten in diesen Tagen die Bauarbeiten für einen mehr als zwölf Millionen Franken teuren Sondierstollen unterhalb von Brienz. Die Idee: Ein Tunnel, der bis zu 150 Meter tief unter das Dorf geschlagen wird, soll dem Rutschhang das Wasser als Schmiermittel entziehen und ihn dadurch abbremsen.

«Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir damit gute Chancen haben, Brienz zu erhalten», sagt Andri Largiadèr. Er begründet dies mit dem Erfolg vergleichbarer Stollenprojekte im Tessiner Maggiatal und dem waadtländischen La Frasse.

Dank Bohrungen an zwölf verschiedenen Stellen rund um Brienz kenne man den Untergrund inzwischen relativ gut, Erfolgsgarantien liessen sich daraus aber nicht ableiten. «Es ist vergleichbar mit einem Puzzle, bei dem immer ein paar wichtige Teile fehlen», so Geologe Schneider weiter.

Bevölkerung wird laufend über Entwicklungen informiert

Für Brienz handelt es sich bei diesem Puzzle um einen Trapezakt ohne Netz und doppelten Boden. Eine schwierige Situation, wie auch Christian Gartmann (56), Sprecher der Gemeinde Albula/Alvra GR, zu der auch Brienz gehört, weiss.

«Die ständige Ungewissheit ist sehr belastend für die Bevölkerung. Wir schenken den Menschen aber reinen Wein ein und teilen ihnen laufend mit, wie sich die Situation entwickelt.» Sodass die Betroffenen vorbereitet wären, falls sich Brienz trotz aller Hoffnungen nicht retten liesse. In einem Jahr weiss man mehr.

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