Oberster Gesundheitsdirektor zu überfüllten Kinderspitälern
«Der Bundesrat muss reagieren»

Die Kinderspitäler sind am Anschlag – auch finanziell. Lukas Engelberger, Präsident der Gesundheitsdirektoren, fordert Alain Berset zum Handeln auf.
Publiziert: 18.12.2022 um 00:30 Uhr
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Aktualisiert: 18.12.2022 um 10:20 Uhr
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Die Kinderspitäler werden überrannt.
Foto: Siggi Bucher
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Danny SchlumpfRedaktor SonntagsBlick

Herr Engelberger, wie schlimm sieht es in den Schweizer Kinderspitälern zurzeit aus?
Lukas Engelberger: Das Gesundheitswesen ist generell in einer stark belasteten Situation. Das ist eine Erscheinung der Spätphase der Pandemie. Es ist möglicherweise der Grund für das intensive Aufkommen des RS-Virus. Die Kinder hatten in der Pandemie weniger Kontakte und konnten deshalb womöglich ihr Immunsystem nicht richtig aktivieren.

Auch die Pflegekräfte erkranken häufiger – was den Personalnotstand in den Spitälern noch verschärft.
Das ist sehr belastend für die Angestellten. Ich habe grosses Verständnis, dass sie jetzt auf ihre schwierige Situation aufmerksam machen. Und ich bin ihnen dankbar, dass sie sich so einsetzen.

Der oberste Gesundheitspolitiker

Lukas Engelberger (47) ist seit 2014 Regierungsrat von Basel-Stadt und Vorsteher des Gesundheitsdepartements. Der Mitte-Politiker arbeitete früher als Rechtskonsulent beim Basler Pharma-Giganten Roche. Der Vater dreier Kinder ist seit 1. Juni 2020 Präsident der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK).

Lukas Engelberger ist seit Mitte 2020 oberster Gesundheitspolitiker im Land.
Stefan Bohrer

Lukas Engelberger (47) ist seit 2014 Regierungsrat von Basel-Stadt und Vorsteher des Gesundheitsdepartements. Der Mitte-Politiker arbeitete früher als Rechtskonsulent beim Basler Pharma-Giganten Roche. Der Vater dreier Kinder ist seit 1. Juni 2020 Präsident der Schweizerischen Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK).

Die Kinderspitäler werden von Notfällen überrannt. Das sind ambulante Behandlungen – ein Bereich, der den Grossteil der Arbeit in diesen Spitälern ausmacht. Doch er beschert ihnen massive finanzielle Verluste. Wer ist verantwortlich dafür?
Der ambulante Bereich ist in der Tat unterfinanziert. Denn es gilt immer noch das Tarifsystem Tarmed. Dieses ist veraltet und wurde 2018 vom Bundesrat zusätzlich gekürzt. Das geschah zum Nachteil der Kinderspitäler. Die Tarife berücksichtigen die Tatsache zu wenig, dass die Behandlung von Kindern deutlich aufwendiger ist als diejenige von Erwachsenen. Die GDK hat sich damals dafür ausgesprochen, den Kinderbereich aus den Kürzungen herauszuhalten.

Ohne Erfolg.
Leider hat der Bundesrat das nicht gemacht. Das neue Tarifsystem Tardoc könnte die Situation der Kinderspitäler stark verbessern. Allerdings verzögert sich dessen Einführung, weil sich die Tarifpartner nicht auf eine gemeinsame Lösung verständigen.

Was bedeutet diese vertrackte Situation für die Kantone?
Sie geben jedes Jahr Dutzende Millionen aus, um die Kinderspitäler zu unterstützen. Sie haben deshalb ein grosses Interesse, dass die Tarifpartner jetzt mit dem Tardoc vorwärtsmachen. Aber auch der Bundesrat muss reagieren.

Wie?
Mit Tardoc liegt ein Vorschlag auf dem Tisch. Er ist noch nicht perfekt, aber die Gesundheitsdirektorenkonferenz regt schon seit längerem an, ihn zu genehmigen – mit Auflagen, bis die methodischen Mängel behoben sind. Diesen Schritt sollte der Bundesrat jetzt machen, denn die verzögerte Tarifablösung ist ein zentraler Teil des Problems. Der Bundesrat kann auch die Kürzungen beim Tarmed zurücknehmen, die er 2018 verordnet hat.

An Handlungsspielraum fehlts also nicht.
Aus Sicht der Kantone kann es jedenfalls kein Dauerzustand sein, dass sie jedes Jahr in die Bresche springen und Subventionen für ambulante Leistungen zahlen. Das Krankenversicherungsgesetz schreibt vor, dass alle effizient erbrachten Leistungen kostendeckend vergütet werden müssen, auch in den Kinderspitälern.

Die Kostenbremse im Gesundheitswesen greift schlecht, die Prämien steigen. Ist es nicht paradox, dass ausgerechnet die Kinderspitäler bluten, die gerade keine unnötigen und überteuerten Leistungen anbieten?
Nicht nur die Kinderspitäler bluten. Schauen Sie sich in der Geriatrie um, auf den Notfallstationen oder in der Psychiatrie. Der Druck ist in vielen Bereichen gross. Es zeigt sich sehr deutlich, dass wir nicht volle Leistungserwartungen an das Gesundheitswesen stellen und gleichzeitig stabile Kosten erwarten können.

Wie lässt sich das Problem lösen?
Idealerweise beginnen wir damit, Gesundheitsleistungen bescheidener zu konsumieren. Heute werden zum Beispiel die Notfallstationen sehr rasch beansprucht. Auch in Fällen, in denen ein Besuch beim Hausarzt möglich wäre. Wir sollten unsere Eigenverantwortung wieder stärker wahrnehmen. Die Schweiz ist ja kein Staat, der das Gesundheitswesen mit Vorschriften überregulieren will.

Und die Politik lehnt sich zurück?
Im Gegenteil, sie muss die pendenten Reformen weitertreiben. Die geplante einheitliche Finanzierung des Gesundheitssystems ist ein guter struktureller Schritt, der Fehlanreize eliminiert. Und natürlich müssen jetzt die Tarifreformen möglichst rasch kommen.

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