Geheimer Bericht warnt vor Kostenexplosion
Bersets Beamte zerzausen neuen Ärztetarif Tardoc

Das BAG rechnet in einer internen Evaluation mit dem neuen Tarifsystem ab. Dieses sei zu teuer, zu komplex und zu intransparent, kritisieren die Experten von Gesundheitsminister Alain Berset.
Publiziert: 29.05.2022 um 01:00 Uhr
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Aktualisiert: 23.11.2022 um 19:03 Uhr
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Angst vor steigenden Gesundheitskosten: Bundesrat Alain Berset am 2. Februar 2021 in einem Spital in Münsterlingen.
Foto: keystone-sda.ch
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Reza RafiChefredaktor SonntagsBlick

Das Schweizer Gesundheitssystem scheint untherapierbar. Man ist sich zwar einig, dass Tarmed – so etwas wie eine Menükarte für ambulant tätige Ärzte und ihre Patienten, in der die einzelnen Positionen festgelegt sind – heillos veraltet ist.

Bei der Frage allerdings, wie das Tarifsystem zu ersetzen und rund zwölf Milliarden Franken pro Jahr anders zu verteilen wären, geht der Ärger los.

Seit drei Jahren hadert Bundesbern mit dem Nachfolgesystem namens Tardoc, das die Ärztevereinigung FMH und der Krankenkassenverband Curafutura erarbeitet haben. Vorletzte Woche wollte Gesundheitsminister Alain Berset (50) Tardoc im Bundesrat den Todesstoss versetzen, scheiterte jedoch. Die Regierung vertagte den Entscheid.

Die nationalrätliche Gesundheitskommission wiederum verlangt per Postulat, die Akteure mittels Kürzung einzelner Tarmed-Tarife zu einem neuen Kompromiss zu bewegen: neben FMH und Curafutura auch den Spitalverband H+ und den Krankenkassenverband Santésuisse.

Guy Parmelins eindringlicher Brief

Eine Frage blieb bislang offen: worauf der Widerstand von Berset und seiner Verwaltung genau basiert. Zentrales Puzzleteil ist ein 90-seitiger Prüfbericht des Bundesamts für Gesundheit (BAG) vom 19. November 2020, der unter Beamten, Verbandsvertretern und Kommissionsmitgliedern kursiert. Das Papier wird der Öffentlichkeit vorenthalten, liegt SonntagsBlick nun aber vor. Das Verdikt ist vernichtend: Zu teuer, zu komplex, zu wenig nachvollziehbar sei das neue Tarifsystem.

Schon das Kriterium «Vollständige Dokumentation und Transparenz» erfülle Tardoc nur bedingt. Informationen seitens der Tardoc-Urheber seien «wenig strukturiert und unvollständig». Nicht besser sehe es inhaltlich aus: Die Erwartung punkto «Wirtschaftlichkeit und Billigkeit» werde nicht erfüllt, die «Anpassung an die aktuellen Gegebenheiten» nur teilweise. Dazu bleibe die Tarifstruktur auch mit dem neuen Vorschlag zu kompliziert: «Tardoc erfüllt die Rahmenbedingungen ‹Vereinfachung der Tarifstruktur› nur bedingt.»

Das Fazit der BAG-Experten hatte die Regierung so sehr aufgeschreckt, dass sich der damalige Bundespräsident Guy Parmelin (62) am 30. Juni 2021 in einem Brief mit deutlichen Worten an die Tarifpartner richtete: «Der Bundesrat hat festgestellt, dass die Tarifstruktur Tardoc sowie die damit zusammenhängenden und vereinbarten Konzepte in der vorliegenden Form nicht genehmigungsfähig sind.» Tardoc, schrieb Parmelin weiter, könne «die gesetzlichen Vorgaben sowie die daraus abgeleiteten Rahmenbedingungen des Bundesrats nicht erfüllen». Man fordere die Akteure «mit Nachdruck» auf, das System unter Einbezug aller Tarifpartner zu überarbeiten.

Ende Dezember reichten FMH und Curafutura eine moderat angepasste Tardoc-Version ein. Dass Berset das Werk vor wenigen Tagen dennoch versenken wollte, spricht allerdings Bände.

Prüfer fordern strenge Überwachung

Wie aus der Evaluation ersichtlich wird, sorgen sich die BAG-Prüfer vor allem um das Kostenrisiko – was mit diversen Aspekten zusammenhängt. So wird etwa moniert, dass die Ärzte gemäss Tardoc manche Leistungen neu in Zeiteinheiten verbuchen können. Konkret bedeutet das, dass bei einzelnen Behandlungen, die bisher nach einem fixen Satz verrechnet werden, neu der zeitliche Aufwand zählt – was grundsätzlich zu begrüssen wäre.

Bloss fehlt bei manchen Positionen eine Obergrenze, womit die Halbgötter in Weiss freihändig nach Zeitaufwand verrechnen könnten. Ausserdem lassen sich weitere Positionen addieren. Kein Wunder, empfehlen die Beamten, dass die Entwicklung in diesem Bereich «genau überwacht wird».

Ein anderes Beispiel ist der durch Spezialisten und Branchenvertreter «normativ» festgelegte Aufwand. Bei manchen Positionen sei dieser Aufwand – im Jargon ist hier von «Minutage» die Rede – «weder mit Daten belegt noch sonst begründet». In den Augen der BAG-Prüfer verhindert dies festzustellen, ob die tarifierte Leistung die für eine effiziente Behandlung erforderlichen Kosten deckt. So könne deren Wirtschaftlichkeit gar nicht bewertet werden.

Angesichts solcher Details erstaunt es kaum, dass manche Kritiker hinter vorgehaltener Hand von einer «Gelddruckmaschine» für Ärzte schnöden. Sie fühlen sich durch den Umstand bestätigt, dass die FMH, welche Fachleute mit unterschiedlichsten Interessen vereinigt, Tardoc einstimmig durchwinkte.

Nicht alles schlecht

Allerdings muss auch gesagt werden, dass die Prüfer den Tardoc-Entwicklern einiges zugutehalten. Der neue Tarif bringe gegenüber Tarmed «eine Reihe von Verbesserungen».

So wurde die Anzahl der Positionen im Vergleich zu Tarmed von 4500 auf 2700 reduziert, was dem Auftrag des Bundesrats entgegenkommt, das System zu vereinfachen. Dennoch, halten die Kontrolleure fest, «ist und bleibt Tardoc ein äusserst komplexes Konstrukt»; man sei von den Erwartungen der Regierung nach wie vor «ziemlich weit entfernt». Dazu wurden viele Positionen dort gekürzt, wo tendenziell wenig Umsatz erzielt wird. Und für Tardoc wurden rund 500 neue Positionen geschaffen.

Berset dürfte die Angst vor einem Kostenschub das grösste Kopfzerbrechen bereiten. Das neue System bietet laut Bericht mehr Möglichkeiten für eine Kombination von Positionen, ermögliche höhere Mengenlimitationen als Tarmed und öffne gewisse Positionen für Fachbereiche, die bei Tarmed beschränkt sind.

Manche Referenzeinkommen basierten überdies auf Gehältern von Spitalärzten, deren Funktion sich mit frei praktizierenden Ärzten nicht vergleichen lasse. Und in gewissen Bereichen scheine die referenzielle Jahresarbeitszeit «tief angelegt zu sein».

Die Tardoc-Macher streiten diese Einschätzungen ab und halten entgegen, dass der neue Tarif effizienter und übersichtlicher sei. Laut FMH-Vertretern gehen mit der Revision auch die Ärztinnen und Ärzte Kompromisse ein. Die Anpassungen seien im Sinne der Sachgerechtigkeit. Vor allem aber beteuert die Branche, dass sich mit Tardoc neue Kostenschübe vermeiden liessen.

Exemplarisch ist ein Detail mit dem Namen «Dringlichkeitsinkonvenienzpauschale». Neu sollen Ärzte für Notfälle auch dann zusätzlich kassieren, wenn sie in der regulären Arbeitszeit behandelt werden. Das BAG ist skeptisch. Die Mediziner hingegen sagen, dass dadurch weniger Patienten in den Notfallstationen der Spitäler landen, was das Gesundheitswesen netto entlaste.

Der Ball liegt jetzt beim Bundesrat. Und der steht unter Druck: In der ersten Jahreshälfte soll der Entscheid gefällt sein, wie ein BAG-Vertreter jüngst in Aussicht stellte.

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