«O’zapft is!» am Oktoberfest in Zürich
«Mia san vier Wochen lang voll»

Wenn Zürcher in die Lederhosen steigen, ist Oktoberfest. Vier Wochen lang dreht sich jetzt alles um Haxn, Hendl und Bier. Bericht aus dem Epizentrum des Wahnsinns.
Publiziert: 13.10.2024 um 20:08 Uhr
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Aktualisiert: 14.10.2024 um 02:29 Uhr
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«Endlich geht es wieder los!»: Vier Wochen dauert das Oktoberfest auf dem Zürcher Bauschänzli.

Auf einen Blick

  • Das Zürcher Oktoberfest zieht Menschen in Dirndl und Lederhosen an
  • Sie konsumieren in vier Wochen 25'000 Liter Bier, 18'000 Shots und 600 Liter Champagner
  • Nach 21 Uhr beginnt die Stimmung zu kochen – die Leute tanzen auf den Bänken
  • «Gar nicht so schlecht für eine Kopie», findet ein Deutscher
Die künstliche Intelligenz von Blick lernt noch und macht vielleicht Fehler.
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Peter AeschlimannRedaktor

Manche Dinge, so meinen Spielverderber, gehören einfach nicht nach Zürich. Polarlichter zum Beispiel. Oder das Oktoberfest. Am Donnerstagabend wurden sie eines Besseren belehrt: Aurora borealis über dem Uetliberg! Und Delirium maximum am Bürkliplatz …

Doch der Reihe nach.

Im Herbst geschieht an der Limmat Erstaunliches. Ausgerechnet hier, wo Fasnacht ein Fremdwort ist, verkleiden sich plötzlich Krethi und Plethi. Überall Dirndl, Lederhosen und Haferlschuhe. Als wären über Nacht alle zu Bayerinnen und Bayern mutiert.

«Endlich geht es wieder los!», frohlockt einer aus dem Tross der Buam und Madln, der kurz nach 17 Uhr das Zelt auf dem Bauschänzli entert. Die verblüffend ortskundige Musikkapelle Bayern 3000 bläst den «Sechseläutenmarsch», das Servierpersonal mit den dicken Oberarmen stellt Masskrüge auf die Tische. «Ein Prosit der Gemütlichkeit» zum Ersten.

Vier Wochen Ausnahmezustand

Es ist der Eröffnungsabend des 27. Zürcher Oktoberfests. Des Originals, wie Kenner sagen. Die 2012 verstorbene Beizenlegende Fred Tschanz hatte es einst «erfunden», seit 2019 lädt das Zürcher Gastrounternehmen Candrian zum Gaudi auf dem Bauschänzli.

Bereits zum dritten Mal amtet Richie Keicher (48) als «Wiesnwirt». Sein persönlicher Rekord: sechs Mass. Nun aber, zu Beginn von vier Wochen Ausnahmezustand, benötigt der Liechtensteiner einen klaren und wachen Kopf. Am Tag zuvor sagte seine Frau zu ihm: «Bis in einem Monat also!» Wenn man Keicher glaubt, ist Schlafen dann wie Kater: überbewertet.

Zunächst zu den Zahlen: 25'000 Liter Bier werden die Durstigen im nächsten Monat konsumieren, 18'000 Jägermeister-Shots und 600 Liter Champagner. 800 Gäste haben drinnen Platz, vor zwei Jahren betrug die Auslastung 96 Prozent, beim letzten Mal 97. Und auch für die Austragung 2024 gibts kaum noch Tickets. Oder wie eine Wiesn-erprobte Kellnerin sagt: «Mia san vier Wochen lang voll.»

Trinkfreudige Polizisten

Bevor es an Hendl und Haxn geht, stürmt eine Gruppe um Kranzschwinger Adrian Laimbacher (43) die Schiessbude. 50 Kugeln will der 100-Kilo-Mann verballern. Er trifft so lange, bis ihn eine Kollegin auf den Rücken klopft – einmal Schwinger, immer Schwinger.

Der Mann, der für Hobbyschützen, Lebkuchen und süss duftende Mandeln zuständig ist, heisst Simon Müller. Seit Jahren stellt er seine Stände am Oktoberfest auf – und hat da so einiges erlebt. Er erzählt vom Radau, den es gab, weil irgendwann ausgerechnet an einem Tisch voller Polizisten der Zettel mit den konsumierten Getränken auf mysteriöse Weise verschwunden war. Das Sicherheitspersonal musste darauf das gesamte Korps auf die Strasse stellen.

Models im Fantasie-Dirndl

Gegen 19 Uhr stehen die Ersten auf den Bänken, Bayern 3000 spielt eine bekannte Country-Nummer zum Mitgrölen. Der Lärmpegel steigt umgekehrt proportional zum Pegel in den Bierhumpen, alles schunkelt und klatscht.

«Die Leute, die Musik, die Stimmung»: Das sei es, was das Oktoberfest ausmacht, sagt Tanja Geiser (43) aus Brüttisellen. «Wir kommen seit x Jahren!», sagt ihre Freundin Sonja Zehnder (42), ebenfalls aus der Gemeinde im Kanton Zürich. Beim Bierkonsum werde man sich zurückhalten, schwören beide. Eine Mass, vielleicht zwei. «Morgen kommen wir ja schon wieder!»

Und es kommen alle: der Schotte Ivor Wallace (54) im Schottenrock, weil sein Grossvater, ein Kriegsveteran, sich wohl im Grab umdrehen würde, wenn sein Enkel eine Lederhose tragen würde. Und es kommt die Innerschweizerin Elena Meise (48), Designerin und Model, die ein selbst entworfenes Fantasiedirndl trägt. Sie sei hier, um Freunde zu treffen, sagt Meise. Das Coolste sei, dass es im Zelt auch Champagner gebe.

«Oans, zwoa, g'suffa!»

Ein älterer Herr mit Wiesnglupperl (Wäscheklammer) am Janker-Revers, auf dem «Luusbueb» steht, tänzelt jetzt übers Parkett. Bayern 3000 spielt «Take Me Home, Country Roads», den vielleicht berühmtesten Wiesn-Kracher. Kreuz und quer klirren die Krüge, ein Prosit der Gemütlichkeit zum gefühlten hundertsten Mal: «Oans, zwoa, g’suffa!»

Der Champagnerbarkeeper aus Österreich sagt, das sei jetzt die Eskalation. «Wenn die Leute ein paar Getränke intus haben, spüren sie sich nicht mehr.»

Bayern 3000 dreht auf, Hymne folgt auf Hymne. Sieht man all die eng geschnürten Mieder, bekommt der Überhit «Atemlos» eine ganz andere Bedeutung. Zu «Griechischer Wein» tanzt eine Büro-Equipe gar nicht so traurig den Sirtaki – «Komm’, schenk dir ein.»

Für eine Kopie sei das ganz gut gelungen hier, meint Florian aus Stuttgart (D). Man könne die beiden Feste vielleicht mit Autos vergleichen: «München ist der neue Porsche 911 – und Zürich halt eben doch nur der kleinere Boxster.» Die Schweizer benötigten etwas Anlaufzeit, urteilt der Deutsche, erst mit vollem Tank starten sie richtig durch.

Tatsächlich beginnt das Zelt nach 21 Uhr zu kochen. Das Promo-Team von Jägermeister greift mit kurzen Höschen ins Geschehen ein, verführt Festbank um Festbank. Wie Jagdtrophäen werden die kleinen Fläschchen neben angeknabberten Brezn auf den blau-weissen Tischtüchern aufgereiht. Ein Stillleben der Gemütlichkeit.

«Es lebe der Blödsinn!»

Von aussen betrachtet mutet das alles etwas seltsam an. Als hätte sich ein bayrisches Ufo an den Zürichsee verirrt. Das blau-weisse Zelt vibriert, als wolle es gleich abheben, das Getöse dringt bis zum Stadthaus. Und so mancher, der sich jetzt auf den Nachhauseweg macht und dabei ein Polarlicht erblickt, wird sich wohl fragen, ob er zu tief ins Glas geschaut hat.

Doch der Wahnsinn ist echt. Am treffendsten hat es wohl Karl Valentin (1882–1948) formuliert, selbstverständlich ein Münchner: «Nieder mit dem Verstand – es lebe der Blödsinn!»

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