Auf einen Blick
Limousinen rollen auf das Gelände, Türen schwingen auf, Bundespräsidentin Karin Keller-Sutter steigt aus. Sie ist nicht allein. Im Wagen dahinter sitzen Alfred (92) und Rudolf Popper (90). Behutsam setzen die beiden Brüder einen Fuss nach dem anderen auf den staubigen Boden, den sie so lange nicht mehr betreten haben, nicht betreten wollten. Still stehen sie da, nur die Augen wandern. Hier die verwitterten Backsteinbaracken, dort der Stacheldraht, der früher elektrisch geladen war, drüben der Eingang des KZ-Geländes. Ist alles noch da? Ist es so wie damals? Sie schweigen. Sie warten auf die Bundespräsidentin. Sie schüttelt Hände. Kurz nur. Gleich schreiten sie zusammen mit ihr unter dem Torbogen «Arbeit macht frei» durch. Eine Museumsangestellte wird die Delegation durch das Lager führen. Doch erklären muss den beiden Männern niemand, was in Auschwitz geschehen ist. Sie waren da. Vor 80 Jahren.
Alfred und Rudolf Popper sind Holocaust-Überlebende, die in der Schweiz leben. Vergangene Woche, am 27. Januar, sind sie mit der Bundespräsidentin zur Gedenkfeier zum 80. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz an den Ort des Schreckens zurückgekehrt. Zum ersten Mal. Ein schwieriger Schritt. Vor der Abreise treffen wir Alfred Popper in seinem Zuhause in Zürich. Er habe kein Bedürfnis zurückzugehen, sagt er in sachlichem Ton, macht eine kurze Pause und schiebt nach: «Ich tue es für die anderen.» Er meint die sechs Millionen Juden, die die Nazis ermordet haben. Sie könnten nicht mehr sprechen, sagt er. «Ich kann es.»
Als die Nazis Prag besetzten
Nun stehen Alfred und Rudolf Popper an dem Ort, wo ihre dunkle Vergangenheit auf die Gegenwart trifft. Besonders gegen Ende des Rundgangs, als plötzlich der deutsche Bundeskanzler vor ihnen steht. Er gibt ihnen die Hand, doch ihre Geschichte kennt er nicht.
Die Brüder wachsen im tschechoslowakischen Prag auf. Unbeschwert. Und gutbürgerlich. Vater Franz ist Chemiker und Mitinhaber einer Firma in der Gärungsindustrie. Bis 1939, dem Jahr, das alles ändert. Die Deutschen besetzen im März ihre Heimat und verfolgen die Juden. Nun dürfen die Kinder nicht mehr zur Schule. Sie müssen den Davidstern tragen. Erhalten nur noch rationiert Lebensmittel. Und die Deutschen eignen sich Vater Franz’ Firma an. Es ist nur der Anfang.
1943 transportieren Nazimänner die Familie ab. Sie kommt ins Konzentrationslager Theresienstadt, das in der Nähe von Prag liegt. Vorerst. Im Oktober 1944 wird die Familie zu anderen Juden in einen Viehwaggon gepfercht. 2000 Menschen sind über den ganzen Zug verteilt. Drei Tage lang sind sie unterwegs, kaum Brot, kaum Wasser. Dafür viel Angst. Viel Ungewissheit. Sie wissen nicht, wohin man sie bringt, der Name des Zielorts erfahren sie erst später: Auschwitz.
Rudolf Popper blinzelt in die Sonne. Unter seiner Winterjacke lugen eine Krawatte und ein dunkelblaues Samtsakko hervor. Er schweigt. Und schaut. Die Delegation ist im ehemaligen Stammlager angekommen, einem von drei Lagern, das zum KZ Auschwitz-Birkenau gehörte. Heute ist hier ein Museum. Rudolf Popper geht, gehalten vom Arm seiner Tochter, hinter den anderen, schafft sich Raum für die Bilder, die Gefühle, die hochkommen. Neben ihm reiht sich Baracke an Baracke, die Blöcke. 4, 5, 6 – die Schilder mit den Nummern sind noch da. Hier waren Menschen untergebracht. Links weist ein Weg zu einem Hügel, aus dem ein Kaminschlot wächst. Auf der Seite führt eine Tür in einen schmutzig-feuchten Raum. Die Gaskammer. Nebenan stehen die Öfen des Krematoriums.
Alfred Popper wechselt die Position, er tritt näher zur Museumsführerin, die neben Karin Keller-Sutter geht. Er will hören, was die Museumsfrau sagt. Will mit seinen Erinnerungen die Lücken füllen. Er sagt: «Wir waren im letzten Liquidationstransport aus Theresienstadt nach Auschwitz.»
Mit Peitschen auf die «Judenrampe» getrieben
Die Familie kommt im Oktober 1944 in Birkenau an, dem Lagerteil, der drei Kilometer von hier entfernt ist. Sein Bruder Rudolf hat die Szene vor einiger Zeit für das Buch «Kaddisch zum Gedenken» zu Papier gebracht: «Unter dem Geschrei von SS-Männern und dem Bellen ihrer Hunde wurden wir mit Peitschen aus dem Waggon auf die sogenannte Judenrampe gedrängt.»
Doktor Mengele steht dort. Für die Selektion. Er macht nur eine Handbewegung – links oder rechts. Sie bestimmt über Leben oder Tod. «Der hat sich gelangweilt», sagt Alfred Popper. Rechts Mütter und Kinder, Ältere, Kranke, Schwache, fast alle, die im Zug waren. Sie werden sofort vergast. Links alle, die die Nazis vorläufig am Leben lassen und zu schwerer Arbeit einteilen können. Die Brüder Popper, zwölf und zehn Jahre alt, sehen den SS-Mann, sehen die Menschenschlange vor ihm. Doch sie müssen nicht zur Selektion. Die Familie gehörte zur «Erfindergruppe», der kleine Alfred sah das mit Kreide geschriebene Wort auf ihrem Viewaggon. Erst viele Jahre später verstand er: Sie galten als wichtig für den Erhalt der deutschen Wirtschaft. Alfred Popper sagt: «Deshalb sind wir heute noch da.»
Die Buben verlieren den Vater aus den Augen. Werden mit der Mutter in eine Halle getrieben, man schert ihre Köpfe kahl und tätowiert auf ihren Unterarm die Häftlingsnummer. Die drei bleiben zusammen, doch nicht lange. Ein SS-Mann nimmt die Buben mit, führt sie zum Vater. Sie kommen ins Stammlager. Getrennt von der Mutter, die in einem anderen Teil mit den Frauen untergebracht wird. Erst nach dem Krieg sehen die Kinder sie wieder. «Bis dahin», sagt Alfred Popper, «wusste ich nicht, was mit ihr ist.»
Auschwitz-Birkenau ist riesig. 176 Hektar, die Weite hier erschreckt jeden. Auschwitz ist das grösste Vernichtungslager der NS-Zeit. Über 1,1, Millionen Menschen starben hier einen grausamen Tod. Die allermeisten waren Juden. Spätestens seit dem Hollywoodfilm «Schindlers Liste» von 1993 wissen auch nicht jüdische Menschen, was hier geschah. Und doch nimmt Antisemitismus heute wieder zu. Seit dem Hamas-Überfall in Israel hat der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) eine Verzehnfachung antisemitischer Vorfälle registriert. In Deutschland versuchen rechte Politiker, zu relativieren, Zweifel am Holocaust und an den Taten des NS-Regimes zu streuen. Der Gründervater der rechtsextremen AfD, Alexander Gauland, sagte einmal: «Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte.» Der AfD-Politiker Maximilian Krah legte jüngst mit einem Tiktok-Clip nach, der rund 300’000 Aufrufe hat: «Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher.» Die Deutschen hätten allen Grund, stolz auf ihr Land zu sein.
Alfred Popper ist darüber besorgt. Zu Hause im Wohnzimmer holt er aus. Besorgt auch wegen der meist jungen Leute mit Palästinensertüchern, die in der Schweiz durch die Strassen marschieren und «From the river to the sea» skandieren. Er schüttelt den Kopf. Warum tun sie das? Wissen sie denn nicht, wozu das führen kann? Jetzt geschehe fast dasselbe wie vor 80 Jahren, sagt er. Er will nicht zusehen. Er will Zeugnis ablegen. Damit man rechtzeitig erkenne, wohin die Ausgrenzung einer Gruppe und deren Verteufelung führe. «Mir ist wichtig, dass man aus unseren Erfahrungen Schlüsse zieht.»
Die Delegation betritt eine Baracke. Hinter Glas liegen Brillen und Gebetstücher, an einer Wand hängt eine grosse Fotografie mit unzähligen Haarkämmen. Persönliche Gegenstände, die aussehen, als hätten sie ihre Besitzer eben erst zurückgelassen. Es gibt mehr davon. In den Vitrinen im Stammlager türmen sich Koffer auf, Zahnbürsten, Kinderkleidchen, Emailgeschirr, Berge von Schuhen und noch persönlicher: ein Meer von Haar. Man hat es den Gefangenen abgeschnitten, um es an deutsche Textil- und Teppichfabriken zu verkaufen. Die Delegation sieht einen Bruchteil. Die Zeit drängt. Bald beginnt der Gedenkanlass im riesigen Zelt auf dem Gelände in Birkenau.
Endstation Block 11
Die Museumsführerin kündigt die letzte Station an: Block 11. Alfred Popper reagiert sofort: «Block 11? Dort sind wir gewesen.» Bundesrätin Keller-Sutter sieht ihn an, sichtlich berührt. «Sie waren dort?» Er nickt. «Ja, dort waren wir eingesperrt. Im Todesblock.»
Den Weg zum Block 11 säumen Birken, die Häftlinge gepflanzt haben. Im gleissenden Licht, an diesem warmen Januartag, wirken sie lieblich. Nichts weist auf das Grauen hin. Bis zur Befreiung des Lagers ist im zweigeschossigen Backsteinbau das Gefängnis. Und das Sonderkommando, jene Juden, die damals die Aufgabe haben, bei der Vergasung und Verbrennung ihrer Brüder und Schwestern mitzuhelfen. Im Hof zwischen Block 10 und Block 11 steht die «Schwarze Wand», die Mauer, die als Kugelfang dient. Jeden Tag erschiessen hier SS-Männer Menschen.
Alfred und Rudolf Popper stehen im Eingang zum Hof, wo sie gleich der Toten gedenken werden. Sie treten nicht sofort ein. Rudolf, der bisher kaum gesprochen hat, zeigt auf die vergitterten Fenster im Erdgeschoss. «Dort waren die Einzelzellen.» Sein Bruder blickt zum oberen Stock. «Und dort waren wir.» Ob sie die Hinrichtungen mitansehen mussten, fragt Bundesrätin Keller-Sutter. Alfred Popper verneint, dann schweigt er. Oben ist der untere Teil der Fenster zugemauert.
Alfred Popper erinnert sich vor der Reise an die Zeit im Block 11. An den Hunger, die Angst. «Alles war schlimm.» Der Bub leidet besonders mit seinem Vater mit. Dieser teilt mit seinen Kindern sein weniges Brot. Meldet sich freiwillig zur Arbeit, das erhöht seine Chance, am Leben zu bleiben. Er tat es für sie, sagt der Sohn heute. «Eine furchtbare Quälerei.» Bei minus zwanzig Grad schuftet der Vater auf einer Baustelle. Seine Finger gefrieren. Die Buben wollen ihm helfen, nähen aus den Bettdecken Handschuhe. Doch sie zerreissen ständig. Jeden Abend machen sie ihm aufs Neue welche. Alfred Popper sagt: «Wir konnten ihm nicht helfen.» Er macht eine Pause. «Ich habe das Gefühl, ich konnte ihm nicht helfen.» Sorgen macht ihm damals auch der kleine Bruder Rudolf. Er, der Ältere weiss: Eine falsche Bewegung und man ist tot. «Ich hatte dauernd Angst, dass er negativ auffällt.»
Die Erinnerungen lassen sie nicht los
Die Bilder des Grauens, die Verzweiflung – die Erinnerungen lassen sie nicht los. Sie müssen damit leben. Anders als die Männer, die ihnen nun mit ihrer Delegation plötzlich im Hof begegnen. Die Männer, die an der Spitze des Landes stehen, das Auschwitz damals verantwortete: Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Karin Keller-Sutter stellt die Brüder den beiden vor, diese strecken ihnen die Hände hin. Alfred und Rudolf Popper ergreifen sie, ohne Zögern.
Alfred und Rudolf Popper haben den Holocaust überlebt. So viele ihrer Liebsten nicht. Ihr Vater, ihre Tante, ihr Onkel, fünf Geschwister der Mutter, ihr Cousin und alle Freunde – sie alle sind ermordet worden. «Ich vergesse euch nie!», schreibt Rudolf Popper im Buch. Auch die Welt soll es nicht tun. Dafür kämpfen die Brüder als letzte Überlebende in der Schweiz.