Fishel Rabinowicz hat den Holocaust überlebt. Doch 31 Familienmitglieder von ihm starben. Ermordet von den Nationalsozialisten, weil sie Jüdinnen und Juden waren.
Der Antisemitismus ist ein tödliches Gift, und Rabinowicz, der das am eigenen Leib erleben musste, hat vor dem Wiederaufflammen alter Ressentiments immer gewarnt. «Ich traue Europa nicht.»
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
Das ist ein Beitrag aus dem «Beobachter». Das Magazin berichtet ohne Scheuklappen – und hilft Ihnen, Zeit, Geld und Nerven zu sparen.
Nach dem Krieg gelangte Rabinowicz mit der Unterstützung der jüdischen Gemeinschaft in die Schweiz. Nach zwei Jahren in einem Davoser Sanatorium studierte er Grafik in Zürich und fand schliesslich eine Stelle als Dekorateur im Tessin. Er war Künstler, schuf Grafiken, Bilder und geometrische Kompositionen, die den Holocaust thematisierten.
Auch Skizzen für ein Denkmal für die Opfer der Shoah hatte er in der Schublade, ein kleines Modell war schon gebaut. Der Beobachter wollte mit Rabinowicz über seine Pläne sprechen, der Termin war bereits ausgemacht.
Doch dazu kam es nicht. Fishel Rabinowicz ist am 26. Oktober 2024 im Tessin verstorben.
Eine Lücke im kulturellen Gedächtnis
In Bern soll ein Erinnerungsort für die Opfer des Nationalsozialismus entstehen, ergänzt durch ein Vermittlungszentrum bei St. Gallen. Während andere europäische Länder wie Deutschland, Österreich oder Ungarn längst Mahnmale und Museen erstellten, wo seither die Menschen vorbeigehen und innehalten und der Opfer des Nationalsozialismus gedenken, baute die offizielle Schweiz: nichts.
Es gibt keinen zentralen Erinnerungsort. Da klafft eine Lücke. Eine Leerstelle. Das hat mit der spezifischen Geschichte eines vom Krieg verschonten Landes wie der Schweiz zu tun. Und mit der jahrelangen Verdrängung seiner eigenen – nicht nur rühmlichen – Rolle.
Erst 50 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, 1995, hat sich der damalige Bundespräsident Kaspar Villiger erstmals im Namen der Landesregierung entschuldigt. «Es steht für mich ausser Zweifel, dass wir mit unserer Politik gegenüber den verfolgten Juden Schuld auf uns geladen haben», sagte er an einer Sondersession im Bundeshaus.
Debatte über nachrichtenlose Vermögen
Etwa zur gleichen Zeit begann die Schweiz – auf Druck von aussen, insbesondere der USA –, ihre wirtschaftlichen Verstrickungen mit Nazideutschland zu untersuchen. Es ging um die sogenannt nachrichtenlosen Vermögen von Opfern des Naziregimes, das ganze Land sprach über Handlungsspielräume und Duckmäusertum unter dem Druck der Achsenmächte.
Schliesslich wurde ein Fonds zur Entschädigung überlebender Jüdinnen und Juden sowie deren Nachkommen eingerichtet. 2004 trat die Schweiz der International Holocaust Remembrance Alliance bei. Sie hat sich damit verpflichtet, die Erinnerung an den Holocaust aufrechtzuerhalten.
Nun baut die Schweiz den Opfern ein Denkmal. Es ist an der Zeit.
«Ich war ein Tabu», sagt Rabinowicz
Die letzten Zeitzeugen sterben. In der Schweiz, sagt Anita Winter von der Stiftung Gamaraal, leben ungefähr noch 320 Holocaust-Überlebende. Die Stiftung Gamaraal dokumentiert einige ihrer Lebensgeschichten – und hält Kontakte zu denjenigen, die noch da sind.
«Wir werden Holocaust-Überlebende niemals ersetzen können», sagt Winter zum Beobachter. «Ein Denkmal kann jedoch dabei helfen, ihre Stimmen lebendig zu halten.» Stimmen wie die von Fishel Rabinowicz. Der sagte kurz vor seinem Tod zur NZZ, dass die Leute in der Schweiz sich lange nicht für seine Geschichte interessiert hätten: «Ich war ein Tabu.»
Dagegen kämpfte er an. Er gab Interviews. Er sprach zu Schulklassen. Gerade diese Brückenfunktion, die Augenzeugenschaft gegenüber der Jugend, sei von unschätzbarem Wert, berichten Lehrpersonen. «Überlebende haben mit eigenen Augen erlebt, wozu Menschen fähig sind», sagt Anita Winter.
Und auch darum kommt das Mahnmal zur richtigen Zeit: Die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung darüber, wohin Diskriminierung von Minderheiten, Rassismus und Antisemitismus führen können, ist wieder sehr aktuell geworden.
Von der Vergangenheit lernen
«Mit der massiven Zunahme von Antisemitismus hat das Projekt leider unerwartete Aktualität erhalten», sagt auch Gregor Spuhler, Leiter des Archivs für Zeitgeschichte an der ETH Zürich, der das Mahnmalprojekt als Experte begleitet. «Die Geschichte wiederholt sich zwar nicht», sagt Spuhler. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegenüber Juden, Roma und Behinderten sei historisch einzigartig gewesen.
«Aber manche Prozesse verlaufen nach ähnlichen Mustern und haben langfristige Auswirkungen. Die Kenntnis der Vergangenheit hilft also, die Gegenwart zu verstehen.»
Über 60 Erinnerungsorte
Bis jetzt existiert das geplante Mahnmal nur auf Papier. Im ersten Halbjahr 2025 wird ein Wettbewerb ausgeschrieben, bis Ende Jahr werden Vorschläge für die Umsetzung gesammelt. Es liege an der Schweiz, schreiben die Mitglieder der Steuerungsgruppe in einem Konzept, mit einem in die Zukunft weisenden Memorial ihre historische Verantwortung zu übernehmen – «ohne dabei jedoch staatliche Geschichtsschreibung zu betreiben».
Das ist ein entscheidender Zusatz. Denn Erinnerung droht, wenn sie von oben diktiert wird, zur Verordnung zu werden. Zumal es nicht so ist, dass in der Schweiz keine Orte der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus existieren. Es sind über 60, wie die Historikerin Fabienne Meyer dokumentiert. Skulpturen, Stolpersteine, Gedenktafeln. Doch die hiesige Erinnerungskultur ist bis jetzt geprägt von privaten Initiativen. Nicht vom Staat.
Rabinowicz’ Nachlass
Nun werden Ideen für die konkrete Umsetzung gesucht. Von Künstlerinnen und Künstlern wie Fishel Rabinowicz, zum Beispiel. Anita Winter, die Gründerin des Netzwerks Gamaraal, hütet seine Skizzen und Entwürfe und wird das Dossier in Rabinowicz’ Namen für den Wettbewerb einreichen.
Es sind zwei geschliffene, schwarze Säulen, eine links, die andere rechts. Sie sollen die Unterdrückung darstellen, die das Leben der Verfolgten zur Hölle machte. Dazwischen steht eine unpolierte Granitplatte. Horizontale Linien, raue Oberfläche. Rabinowicz sah darin «die Gerechten». Retter, Helfer, Beschützende. Auf dem Stein prangen sechs Kerzen. Zum Gedenken an die über sechs Millionen Ermordeten der Shoah.