Fishel Rabinowicz hat kaum geschlafen. Um sechs Uhr früh legte er sich ins Bett, am Mittag stand er wieder auf. So geht das jede Nacht. Der Körper lässt ihn nicht ruhen. Viele Jahre lang hat er nachts für seine Kunst gearbeitet. Bis ins hohe Alter. Gegessen hat er jetzt, wo die Nachmittagssonne seine Bilder in der Wohnung in Locarno TI streift, auch noch nichts. Doch er klagt nicht, er stellt bloss fest. Fishel Rabinowicz sagt: «Es macht mir keine Mühe, einen ganzen Tag lang nichts zu essen.» Vor mehr als 80 Jahren machte er diese Erfahrung. Musste er. Die Nazis zwangen ihn zum Schuften und gaben ihm nicht mehr als eine wässrige Suppe pro Tag.
Fishel Rabinowicz hat als Jude den Holocaust überlebt. Am 9. September wird er 100 Jahre alt. Schnell ist es da, das Grauen, bei so vielem, was er tut und denkt. Heute mehr noch als früher. Im hohen Alter lenkt wenig ab. Laut Schätzungen der Gamaraal-Stiftung, die sich um die Schweizer Überlebenden kümmert, ist er einer von rund 350 im Land. Jedes Jahr werden es weniger. Rabinowicz gehört zu den Letzten, die vom Schrecken berichten können. Lange hat er dies in seiner Kunst, den grafischen Bildern, und während Schulbesuchen getan. Er sagt: «Das bin ich den anderen Juden schuldig.»
An den Tag, der sein Leben veränderte, erinnert er sich genau. Am 1. September 1939 fielen die Deutschen in Polen ein. «Am Freitag hörten wir es im Radio», sagt er. Schon am Montag darauf besetzten sie seine Heimatstadt Sosnowiec, nahe der deutschen Grenze. Fishel Rabinowicz war 14 Jahre alt. Der Drittälteste von zehn Kindern. Die Eltern führten ein Bettwarengeschäft mit Angestellten, die Garnituren nähten. Bis die Nazis jüdische Geschäfte plünderten und schlossen, Juden auf der Strasse die Bärte abschnitten, sie zusammentrieben und erschossen. Fishel war der Erste der Familie, den sie fassten. 1941, da war er 16 Jahre alt und ahnte wie alle anderen nichts vom bevorstehenden Massenmord. Und von seinem Schicksal: acht Arbeitslager, ein Konzentrationslager (KZ) und seine KZ-Nummer. 19037.
Zweimal hintereinander sagt er diese nun in seiner Wohnung in Locarno. Beim zweiten Mal diktiert er Ziffer um Ziffer, damit die Journalistin beim Aufschreiben auch ja keine vergisst. Sie sind ein Teil von ihm. Er sagt: «Im KZ war ich kein Mensch mehr, ich war nur noch diese Nummer.»
Die Leute schweigen
Nach der Festnahme musste Rabinowicz vier Jahre lang an der Reichsautobahn arbeiten oder Eisenbahnschienen verlegen. Schwerstarbeit. Mit wenig Schlaf und noch weniger Essen. «Sie haben uns geschunden und gequält», sagt er. Viele überlebten die Arbeit nicht. Genauso wenig wie den Todesmarsch kurz vor Kriegsende. Für ihn das «schlimmste Erlebnis».
Februar 1945. Die Alliierten rückten immer näher. Im KZ, in dem Rabinowicz war, trommelten die Nazis eilig 1220 Häftlinge zusammen und marschierten mit ihnen Richtung KZ Buchenwald. 55 Tage lang. Nur 746 kamen lebend an. Fast 80 Jahre später holt Fishel Rabinowicz tief Luft und fragt: «Wo sind die anderen hin?» Er weiss es. Er wurde Zeuge, wie sein bester Freund «Monjek» – Moses – am zweiten Tag starb. «Monjek» war zu schwach zum Gehen, ein SS-Mann sagte ihm, er solle am Wegrand stehen bleiben, eine Fuhre würde ihn mitnehmen. «Der Mann war freundlich zu uns, das war selten. Es war mir suspekt», erinnert sich Rabinowicz. Er selbst musste weitermarschieren. Etwas später hörte er Schüsse hinter sich. «Monjek» war 20, als die SS-Männer ihn ermordeten. Dabei blieb es nicht. Die Nazis nahmen Rabinowicz 31 Familienmitglieder. Nur vier überlebten: er, zwei Brüder und ein Cousin.
Fishel Rabinowiczs Körper ist vom Alter geschwächt, die Beine sind müde, manchmal fällt ihm der Bleistift aus der Hand. Doch rattert er während des Gesprächs Dutzende von Zahlen und Daten herunter, alles auswendig. Er sagt: «Die Zahlen sind bei mir wie eingeritzt.» Er darf sie nicht vergessen. Wenn er sich nicht mehr erinnert, tut es auch die Nachwelt nicht. Und ein zweiter Holocaust ist möglich. Doch manchmal nützt sein gutes Gedächtnis wenig. Die Leute hören es nicht gerne, wenn er vom Mord an seiner Familie erzähle, sagt er. Oder, dass er noch 28 Kilo wog, als die Alliierten das KZ Buchenwald am 11. April 1945 befreiten. Die Leute wüssten nicht, was sie sagen sollten. «Sie schweigen.»
Für die Nazis war er der «Rotkopf»
Was hat ihn damals gerettet? «Gliick!», ruft Rabinowicz ohne lange zu überlegen auf Jiddisch, das er als Kind zu Hause sprach. Die Deutschen hätten ihn «irgendwie gemocht». Er sei klein gewesen und habe feuerrote Haare gehabt. «Röter als rot», die Worte eines Wärters hat er immer noch im Ohr. Sie nannten ihn nur «Rotkopf» und gaben ihm leichtere Arbeiten als den anderen.
Glück auch, weil er nach dem Krieg wieder gesund wurde. Während Jahren lag er in Spitälern, zuletzt kam er nach Davos GR ins Sanatorium, um seine kranken Lungen zu heilen. Er blieb in der Schweiz. In Zürich studierte er Grafik, lernte seine Frau kennen und zog mit ihr ins Tessin – weg von der deutschen Sprache, die er nicht mehr hören konnte, ohne dass Bilder von Tod und Elend hochkamen. Im Südkanton arbeitete er als Chefdekorateur eines Warenhauses, wurde Vater eines Sohnes, bekam den Schweizer Pass. «Die Schweiz machte mich wieder zu einem Menschen», sagt er.
Trotzdem: Die Schrecken der Vergangenheit blieben an Fishel Rabinowicz kleben. Erst spät im Leben fand er einen Weg, um sie zu verarbeiten: Kunst. «Meine Therapie», sagt er.
Sein erstes Bild fertigte er 1989, im Jahr nach seiner Pensionierung. 50 weitere folgten. Er besann sich auf die Technik, mit der er als Dekorateur ein Schaufenster gestaltet hatte: Mit dem Japanmesser schnitt er Formen aus einem weissen Blatt aus und legte sie auf ein schwarzes oder farbiges Blatt. Nachts studierte er die Geschichte der Juden sowie ihre Schriften. Tagsüber verewigte er die jüdische Kultur, die man ihm genommen hatte, als Symbole und hebräische Buchstaben auf Papier. So auch den Holocaust.
Das Werk «Überlebender» schuf er 1994. Aleph, der erste Buchstabe des hebräischen Alphabets, entkommt am oberen Rand des Bilds der Zerstörung. Er ist der Überlebende. Sein Kopf und Körper ragen über den Bildrand hinaus, mit dem Fuss bleibt er im Chaos stecken, das von den durcheinandergeratenen Buchstaben am unteren Bildrand symbolisiert wird. Sie nimmt er mit, wohin auch immer er geht. Bis heute.
Er hat noch etwas vor
Nun wird Fishel Rabinowicz 100 Jahre alt. Ein hohes Alter. Nur wegen der Kunst, glaubt er. «Ich hatte die Aufgabe, Zeugnis abzulegen.» Noch ist er nicht fertig damit. Er brauche weitere drei, vier Jahre. «Ich habe noch etwas im Kopf.» Und meint sein letztes Werk. Der Bund plant ein Holocaust-Mahnmal. Bald startet die Eingabe für die künstlerische Umsetzung. Dafür hat er einen Entwurf gemacht. Ob er ihn umsetzen darf und ob er das fertige Mahl noch erleben dürfe, entscheide der Herrgott, sagt er. «Nach meinem Geburtstag machen wir einen neuen Vertrag.»
Und dann sagt er unvermittelt: «So war das», und verabschiedet sich. Fürs Erste. Eine Stunde später klingelt das Telefon. Fishel Rabinowicz will noch etwas sagen. «40 Lehrlinge!», ruft er. Sie alle habe er als Chefdekorateur ausgebildet. «Schreiben Sie das.» Für die Autorin dieses Texts ist das ein Detail, doch er beharrt darauf. «Das ist wichtig!» Er habe von der Schweiz viel bekommen und ihr auch etwas zurückgegeben. Das Gefühl, etwas schuldig zu sein – es lässt ihn auch mit 100 Jahren nicht los.
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