Sie wollten nach Zürich – doch dort kamen sie nie an. Naciye (†55) und ihr Mann Mehmet Ekici (†64) sowie deren Verwandter Bülent Kilic (†42) starben beim Horror-Crash am 27. November 2019 auf der A3 vor dem Bözberg. «Ich möchte noch einmal allen Angehörigen sagen, dass es mir leidtut», sagt Crash-Fahrer Darko G.* (46) nun vor dem Bezirksgericht Brugg AG, wo ihm seit Montag der Prozess unter anderem wegen mehrfacher vorsätzlichen Tötung gemacht wird.
Laut Anklageschrift staute es bei einer Baustelle vor dem Tunnel, die linke Spur war aufgrund der Arbeiten blockiert. «Der Beschuldigte missachtete die Sperrung des Überholstreifens und fuhr bis unmittelbar vor dem Signalisationsfahrzeug auf dem Überholstreifen bei einer Geschwindigkeit von durchschnittlich 150 km/h», heisst es in der Anklageschrift.
Am Ende knallte der Porsche-Lenker gemäss Staatsanwaltschaft «ungebremst» und mit «mindestens 133 km/h» ins Heck des roten Renaults, der noch in einen Sattelanhänger geschoben wurde. Der Sohn des toten Ehepaars zu Blick: «Alle drei hatten keine Chance.»
Ausnahmezustand wegen drohender Scheidung
Mit gesenktem Kopf sitzt der Beschuldigte am Montag an seinem Platz und starrt auf seinen Tisch. Er spricht kein Deutsch, daher ist eine Übersetzerin anwesend. Doch er gibt sich wortkarg, beantwortet Fragen mehrheitlich mit Kopfschütteln oder murmelt die Antworten nur ganz leise in seiner Muttersprache. Der Gerichtspräsident weist ihn schliesslich darauf hin, seine Antworten deutlicher von sich zu geben. Doch seine eigentliche Befragung beginnt erst später, der Auftakt gibt die Befragung des Gutachters Thomas Knecht.
Der forensische Psychiater attestiert Darko G. zum Zeitpunkt des Unfalls eine verminderte Schuldfähigkeit. Der Crash-Fahrer habe nicht nur einfach eine schlechte Tagesform gehabt. Seine Frau habe die Scheidung gewollt, was ihn unter anderem um seine Existenz habe fürchten lassen – auch wirtschaftlich sei er nämlich von der Schwiegerfamilie abhängig gewesen. Er habe sich dadurch in einem emotionalen «Ausnahmezustand» befunden. Ausserdem habe kurz vor dem Crash noch ein Telefonat mit seiner Noch-Ehefrau stattgefunden, das seine Stimmung zusätzlich beeinträchtigt habe.
Wollte Darko G. sich umbringen?
Ganz von Sinnen sei er jedoch nicht gewesen, führt Knecht bei seiner Befragung aus. «Hochpräzis hat er es geschafft, noch die Fahrbahn zu wechseln», sagt er und beruft sich auf das Überwachungsvideo, das offenbar von dem Crash vorliegt. «Für eine solche kognitive Leistung hat es noch gereicht.»
Zum Schluss habe er die Wahl gehabt, entweder noch diesen letzten Spurwechsel vorzunehmen oder mit voller Wucht in das Baustellenfahrzeug zu brettern. «Schliesslich wurde er von seinen Selbsterhaltungsinstinken überwältigt.» Suizidale Absichten habe er jedoch im Gespräch mit dem Gutachter verneint, das liesse sich nicht mit seinen religiösen Ansichten vereinbaren.
Der Verteidiger von Darko G. jedoch zitierte dann einen Polizeibericht. Die Ehefrau des Unfallfahrers soll nur wenige Minuten vor dem Horror-Crash den Notruf gewählt haben. Sie habe gemeldet, dass sie mit ihrem Mann telefoniert habe und er sich umbringen wolle. Die als Zeugin vorgeladene Gattin kann sich zwar laut eigener Aussage an die Androhung des Suizids nicht mehr erinnern, doch dann spielt der Richter das aufgezeichnete Telefongespräch mit der Alarmzentrale ab. «Mein Mann will sich umbringen, bitte helfen Sie mir», flehte sie damals den Polizisten an.
Porsche-Fahrer will sich nicht erinnern können
Auch ein Augenzeuge des Unfalls meinte bei seiner Befragung am Montag vor Gericht, er habe den weissen Porsche enorm schnell auf die Baustellenabschrankung hin rasen sehen und sei stutzig geworden. «Es hat sich für mich so angefühlt, als hätte es eine suizidale Absicht gegeben», sagt er vor Gericht. Tatsächlich soll auch ein mehrseitiger Brief bei Darko G. gefunden worden sein – ob es sich dabei um einen Abschiedsbrief handelt oder nicht, wollte sich der forensische Psychiater nicht festlegen.
Was an dem verhängnisvollen Mittwochmorgen genau passiert ist, daran will sich der Porsche-Fahrer laut seinen Äusserungen gegenüber Thomas Knecht offenbar jedoch nicht mehr erinnern können. Er mache ab seiner Fahrt von Pratteln BL her eine Lücke geltend. Körperliche Ursachen schliesst der Gutachter eher aus, er geht vielmehr davon aus, dass diese Amnesie psychisch bedingt ist. Ob es sich um eine reine Schutzbehauptung handelt, diese Einschätzung will er dem Gericht überlassen. Es könne auch ein Verdrängungsmechanismus zum Selbstschutz sein.
Crash-Fahrer war früher Polizist
Bekannt wurde beim Prozess ausserdem: Beim komplett zerstörten Renault war der Beifahrer-Airbag ausgeschaltet und die Person auf dem Rücksitz nicht angeschnallt. Laut dem Rechtsmediziner hätten selbst diese Massnahmen nicht mehr helfen können. «Niemand hätte diese Kollision überleben können», sagt dieser bei seiner Befragung. Auch ein eingeschalteter Airbag und ein festgezurrter Sicherheitsgurt hätte bei diesen wirkenden Kräften niemanden vor dem Tod bewahren können. «Wenn die Person nicht vom Rücksitz in die Windschutzscheibe geschleudert worden wäre, dann wäre sie auf der Rückbank zerquetscht worden», erklärt er.
Schliesslich wird der Beschuldigte befragt – noch nicht zum Unfall, sondern nur zu seiner Vita. Mit seinem schwarzen Rollkragenpullover und seinen dunklen Jeans sitzt er gebeugt da, die Hände gefaltet. Er erzählt, dass er in seiner Heimat Montenegro die vierjährige Polizeischule absolviert habe und sieben Jahre als Verkehrspolizist gearbeitet habe. 1999 sei er in die Schweiz gezogen und habe bei der Gipserfirma seines Schwagers eine Anstellung erhalten.
«Es fällt mir schwer, dass drei Leben ausgelöscht wurden»
Der Vater eines Sohnes und einer Tochter habe nach dem Unfall längere Zeit nicht mehr gearbeitet, unterdessen arbeite er jedoch temporär und habe Aussicht auf eine Festanstellung per 1. Dezember. Wie das genau mit seinem Antrag auf eine IV-Rente zusammenpasse, auf diese Frage des Gerichtspräsidenten sagt der Beschuldigte nur: «Ich möchte und wünsche mir eine feste Arbeit.» Er sagt jedoch auch: «Es fällt mir schwer, dass drei Leben ausgelöscht wurden. Und solange ich lebe, werde ich immer daran denken.»
Die Staatsanwaltschaft fordert sieben Jahre Gefängnis und einen zehnjährigen Landesverweis. Zudem soll eine vollzugsbegleitende ambulante Massnahme angeordnet werden. Der Verteidiger will seine Anträge erst bei den Plädoyers am Dienstag publik machen. Für den Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung. Am Mittwoch will das Gericht sein Urteil im Fall des tragischen Bözberg-Crashs schliesslich verkünden.
* Name geändert